© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/09 13. März 2009

Wo hat sie denn eigentlich gestanden?
Der britische Historiker Frederick Taylor hat eine umfassende Geschichte der Berliner Mauer geschrieben
Detlef Kühn

Zwanzig Jahre nach dem Ende der kommunistischen Systeme in Osteuropa und dem zur Sowjet­union gehörenden Teil Asiens scheint auch das wichtigste Symbol für Unfähigkeit und Menschenverachtung kommunistischer Machthaber im Nebel der Geschichte zu verschwinden: die Mauer. Im Zentrum Berlins kann man tagtäglich Touristen aus aller Welt begegnen, die – mit einem Stadtplan und einer historischen Broschüre bewaffnet – verzweifelt herauszufinden versuchen, wo denn hier nun eigentlich dieses weltberühmt gewordene Bauwerk gestanden hat, von dem sie so viel gehört haben.

Dieser touristischen Neugier entspricht in gewisser Beziehung und auf einer ganz anderen Ebene, was Meinungsforscher über das DDR-Bild deutscher Schüler aus Ost und West zu berichten haben. Danach läßt sowohl das Faktenwissen über diesen Teil der deutschen Geschichte zu wünschen übrig, als auch das Geschichtsbild, das auf dieser Grundlage in den Köpfen heutiger Schüler entstanden ist. Schüler wie Lehrer und auch die Eltern scheinen sich mit dem historischen Phänomen DDR schwerzutun. Den Rezensenten überrascht das nicht, hatte er doch als Verantwortlicher in der politischen Bildungsarbeit mit diesen Fragen schon vor mehr als drei Jahrzehnten zu kämpfen.

Jetzt liegt ein Buch vor, das geeignet sein könnte, Abhilfe zu schaffen. Der britische Historiker Frederick Taylor, ausgewiesen durch verschiedene Arbeiten zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, hat es in englischer Sprache bereits vor drei Jahren veröffentlicht. Für die makellose Übersetzung ins Deutsche hat Klaus-Dieter Schmidt gesorgt. Beim Titel handelt es sich allerdings in beiden Sprachen um britisches understatement. Das Buch liefert deutlich mehr, als der Titel verspricht. Der Autor legt – dargestellt am Beispiel Berlins – eine Geschichte der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg vor, die weder mit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 begann, noch mit ihrer überraschenden Öffnung am 9. November 1989 beendet war.

Taylor bringt zuerst einen kurzen Überblick über die preußisch-deutsche Geschichte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Auf den folgenden 150 Seiten beschäftigt er sich mit der Nachkriegsgeschichte, der unterschiedlichen Politik der Besatzungsmächte, den speziellen Zielen Walter Ulbrichts in der DDR und Konrad Adenauers im Westen, sowie herausragenden Ereignissen wie dem Aufstand vom 17. Juni 1953 oder dem Berlin-Ultimatum Nikita Chruschtschows. Der eigentlichen Zeit des Baus der Mauer und ihrer 28jährigen Existenz mit all ihren politischen und menschlichen Auswirkungen widmet er natürlich den größten Teil seiner Darstellung. Dabei werden die Ereignisse stets in das historische Umfeld eingebettet.

Die jeweilige politische Situation und oft unterschiedlichen Interessenlagen der Politiker werden präzise dargestellt. Ihr Handeln wird damit mehr oder weniger nachvollziehbar; das alles in einer Sprache, die frei ist von Aufgeregtheiten, aber dennoch der Dramatik und auch den vielen Tragödien, etwa bei den Mauertoten, angemessen. Die letzten dreißig Seiten widmet Taylor der Wiedervereinigung und ihren Folgen. Auch hier hütet er sich vor Pauschalurteilen, verschweigt aber nicht manche Unzufriedenheiten der ehemaligen DDR-Bürger. Da man es niemals allen recht machen kann, hofft er auf die Jugend, die nun bereits seit zwanzig Jahren in einem allen gemeinsamen Deutschland aufwächst und daher auch die Probleme von heute und morgen lösen muß.

Taylors Buch bringt dem Fachmann wenig Neues. Sein Wert liegt in der guten Lesbarkeit und den vielen Informationen, die es dem zeitgeschichtlich interessierten Laien bietet. Das gilt zum Beispiel für den Brief des amerikanischen Präsidenten vom 18. August 1961 an den Regierenden Bürgermeister von Berlin, der im vollen Wortlaut abgedruckt wird. Kennedy antwortet Willy Brandt auf dessen „Brand-Brief“ zwei Tage vorher. Er sparte nicht an teilnehmenden Äußerungen für das Leid der Deutschen, legte aber auch ganz nüchtern die Eckpunkte dar, von denen er sich in Zukunft in seiner Berlin-Politik leiten lassen werde. Es ging nur noch um die Freiheit West-Berlins und den Zugang der Alliierten – mehr nicht, aber der Stachel im kommunistischen Fleisch blieb. Da dieser Brief von Vizepräsident Lyndon B. Johnson und dem in Berlin besonders populären General Lucius D. Clay überbracht wurde, die von einer Verstärkung der amerikanischen Truppen in Berlin um 1.500 Mann begleitet wurden, verfehlte er seine Wirkung auf den Adressaten, aber auch auf die Moral der West-Berliner nicht.

Der Autor ergeht sich nie in Spekulationen, sondern stützt sich auf überprüfbare Quellen. Die Ergebnisse seiner Interviews mit gut ausgewählten Zeitzeugen sind ein ausgesprochenes Lesevergnügen. Insgesamt hat man den Eindruck, daß er den Deutschen als dem von der Teilung besonders betroffenen Volk mit Sympathie begegnet, natürlich besonders den Deutschen in der DDR, die schließlich die Hauptlast zu tragen hatten. Dagegen verschweigt er nicht, daß 1961 nach den Sperrmaßnahmen viele Politiker auch im Westen, zum Beispiel in Frankreich und Großbritannien, eher erleichtert als bedrückt waren.  Bei diesen Leuten herrschte dann 1989 nach dem Fall der Mauer folgerichtig das umgekehrte Gefühl vor.

Wer dem Desinteresse und mangelnden Wissen in bezug auf die DDR gerade bei jungen Leuten begegnen will, sollte sich dieses Buches bedienen. Es ist für den Schulunterricht an höheren Schulen gut geeignet, wird aber auch bei Einzellektüre nicht langweilen. Und auch der Abiturient, der kürzlich an einer Schule in Treptow seinen Lehrer mit der Frage überraschte, ob dieser Berliner Bezirk, in dem er geboren wurde, eigentlich zu Ost- oder West-Berlin gehört habe, findet in diesem Buch ohne Probleme die richtige Antwort. Ältere Zeitgenossen, die die dramatische Geschichte der Teilung Berlins bewußt miterlebt und miterlitten haben, werden sich nicht ohne Bewegung an lange zurückliegende eigene Erlebnisse erinnern lassen.

 

Detlef Kühn war von 1972 bis 1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn

Frederick Taylor: Die Mauer. 13. August 1961 bis 9. November 1989. Siedler Verlag, München 2009, gebunden, 576 Seiten, 30 Bilder, Euro 29,95

Foto: Eingelassene Metallstreifen auf Gehsteig oder Fahrbahn markieren den Verlauf der Berliner Mauer: Objekt der touristischen Neugier

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