© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/09 13. März 2009

Das doppelte Antlitz des Apoll
Opferkult: Christa Wolf zum achtzigsten Geburtstag
Harald Harzheim

Ein Klassiker der Opferliteratur wäre sie, wenn es dieses Genre gäbe: ein Ehrenplatz, den sie allenfalls mit Ingeborg Bachmann teilen müßte. War diese auf weibliche Psycho-Opfer spezialisiert, so verfaßte Christa Wolf politische Klagemonologe.

Christa Wolf, am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe geboren, studierte Germanistik in Jena und Leipzig, unter anderem bei Hans Mayer, ehe die SED-Genossin als 26jährige in den Vorstand des Schriftstellerverbandes der DDR gelangte. Als sie 1976 den Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns mitunterzeichnete, wurde sie aus dem Verband ausgeschlossen. Mitglied der SED blieb sie bis zum Sommer 1989.

Mit „Kassandra“ (1983) gelang ihr der Durchbruch zur „gesamtdeutschen Schriftstellerin“. Diese Erzählung avancierte während des Kalten Krieges zur Kultlektüre bei ost- und westdeutschen Links-intellektuellen. Oder besser: Sie war die Personifizierung von deren Ohnmacht – eine Seherin, dazu verflucht, daß niemand sie ernst nahm. Friedensbewegung, Ökos, Feministinnen, wer konnte sich darin nicht wiederfinden? Zumal die Heldin, die Apollo-Priesterin Kassandra, selbst bis zur Perversion unschuldig ist, die das Dunkle nur im Anderen zu erkennen braucht: in ihrem „hehren“ Gott Apoll beispielsweise. Der – so stellt sie mit Schrecken fest – ist zugleich auch Herr der Wölfe und der Mäuse, zuletzt schwört sie ihm ab. Ansonsten wird selbst die wilde Amazonenkönigin Penthesilea in eine Opferrolle gesperrt.

Dieser Opferkult ist keineswegs bloß dem Zeitkontext entsprungen. Denn daß der Herrscher der Wölfe nicht der von Frau Wolf ist, daran läßt sie auch 22 Jahre später keinen Zweifel. Erklärt sie doch: „Ich kann keinen Menschen beschreiben, der mordet. Schon als Kind hatte ich große Angst vor körperlicher Verletzung. Ich glaube, ich versuche, dieses völlig Irrationale, was teilweise unsere Welt beherrscht, zurückzudrängen, besonders durch mein Schreiben. Ich versuche, einen Raum zu erzeugen, wie in ‘Kassandra’ und ‘Medea’, der durch, ja: humane Werte ein Gegengewicht bekommt.“ Das führt dazu, daß in „Medea: Stimmen“ (1996) die Titelheldin nicht mehr ihre beiden Kinder umbringt. Als (mal wieder) ehemalige Priesterin von Kolchis verrät sie ihre Stadt aus Liebe zu Jason. Der bringt sie nach Korinth, wo er sie wegen der Königstochter Glauke verstößt. Durch das Ausbleiben ihres Amoklaufs ist auch Medea pures Opfer. So wie Christa Wolf selbst, die nach dem Zusammenbruch der DDR im Westen fallengelassen und vergessen wurde?

Aber dieses Vergessen, liegt es nicht daran, daß – außer George W. Bush – niemand mehr die Welt in solche Dualismen à la „Ich Opfer, Du Täter“ aufteilen mag? Wenn das ein Grund ist, dann warten andere Texte von Christa Wolf auf Entdeckung. So die spät publizierte „Erinnerung an Koni“ über den 1982 verstorbenen Filmregisseur Konrad Wolf, der ihre Erzählung „Der geteilte Himmel“ (1964) verfilmte – und der trotz harter Kämpfe gegen Zensur eine Verfilmung von Christa Wolfs „Moskauer Novelle“ durchsetzte. Für sie war er ein Kämpfer, der sich im Wiederstehen „zerrieben“ hat. Keine Anklagen, sondern eine stille, unpathetische Beschreibung seiner Beerdigung – aber die ganze Wucht antiker Tragödien liegt in diesem kleinen Text, die in „Kassandra“ und „Medea: Stimmen“ durch eine Überdosis Moralin geblockt wird.

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