© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  12/09 13. März 2009

Flucht in die Literatur
Identität: Die Sehnsucht nach einem zeitgenössischen Nationalepos ist typisch deutsch
Thorsten Hinz

Es ist ermüdend, aber auch rührend, wie seit fast 20 Jahren nach dem „Wende-Roman“, dem „gesamtdeutschen“, dem „Roman zur Wiedervereinigung“ gerufen wird. Die Bücher von Thomas Brussig, Günter Grass, Ingo Schulze usw. und zuletzt Uwe Tellkamps „Turm“ wurden hin und her gewendet, ob sie wohl den Anspruch erfüllten. Manchmal war das mehr, meistens weniger der Fall, gerecht werden konnte ihm noch keiner.

Das Verfahren ist ermüdend, weil die Gesetze der Ästhetik den Zwang, politische Entwicklungen durch Kunst und Literatur nachzuvollziehen, nicht kennen. Die Erwartungshaltung erinnert an die Ungeduld Walter Ulbrichts, der die „Genossen Schriftsteller“ mit Fragen von der Sorte plagte: Wo bleibt der Roman über die Kollektivierung der Landwirtschaft? Wo das Buch über den Aufbau der Großindustrie? Und wer schreibt endlich den dritten, den sozialistischen Teil des „Faust“?

Der Vorgang ist zugleich rührend, weil dahinter die verschämte Sehnsucht aufschimmert, die deutsche Literatur möge weltliterarisch wieder in der obersten Liga mitspielen. Es geht um eine Antwort auf die eigene Sinnfrage: Wenn die Welt in der deutschen Literatur eine neue Bedeutsamkeit entdeckt, gesteht sie der Wirklichkeit, aus der diese Literatur schöpft, ebenfalls eine erhöhte Bedeutung zu und hebt diejenigen, die sie konstituieren, über die Banalität von menschlichen Arbeitsbienen hinaus. Anders gesagt: Im Wunsch nach dem großen „Wende-Roman“ äußern sich ein nationaler Minderwertigkeitskomplex und eine schmerzhafte Identitätskrise. Man will das eigene Land, das sich seit 1989 so sehr verändert hat, erklärt bekommen. Die Politiker sind dazu außerstande. Die Politischen Wissenschaften hacken die Geschichte klein und setzen sie nach erfahrungsfremden Modellen wieder zusammen; sie versperren den Blick, anstatt ihn freizumachen. Die Zeithistoriker verharren überwiegend in moralisierender NS-Kritik.

Bleibt nur noch die Literatur: Sie kann die unterschiedlichsten Zeitebenen, Themenbereiche, Bedeutungsschichten und Textsorten, sie kann Phantastisches und Reales, Dokumentiertes und Kontrafaktisches assoziativ miteinander verknüpfen und an der informellen Zensur vorbei­schmuggeln. Sie kann ihren Leser aufzeigen, was die Gegenwart an Vergangenheit und an Zukunftsmöglichkeiten enthält. Man wünscht sich ein Nationalepos, das die Unsicherheit über die eigene Situation erklärt und auflöst.

Das wiederum ist sehr deutsch und sehr typisch für ein Land, das im Politischen wenig Glück hatte, wo das Bleibende von den Dichtern statt von Fürsten gestiftet wurde. Nur in einem derartigen Bezugsfeld ist eine Behauptung wie die Hugo von Hofmannsthal möglich, der 1927 in der Rede über das „Schrifttum als geistigen Raum der Nation“ verkündete, die Literatur sorge dafür, „daß der Geist Leben wird und das Leben Geist“, und trage bei „zu der politischen Erfassung des Geistigen und der geistigen des Politischen“ und damit „zur Bildung einer wahren Nation“.

So pathetisch wagte heute niemand zu reden, und das nicht nur wegen der deutschen Neigung zur Selbstgeißelung. In der fortschreitenden Moderne verstehen sich sakrale und Kollektivbindungen nicht mehr von selbst. Auch aus diesem Grunde konnten Mauerfall und Wiedervereinigung den Verlust an nationaler Selbstsicherheit, der vor allem durch das Jahr 1945 markiert wird, nicht durch eine neue Identitätsstiftung kompensieren und ergab sich für die Schriftsteller keine Notwendigkeit, die beiden Ereignisse mit vergleichbarer Intensität zu behandeln. Die „Gruppe 91“ als Antwort auf die „Gruppe 47“ blieb ungegründet.

Was müßte ein gesamtdeutsches Opus enthalten, wie müßten Geistiges und Politisches zueinander stehen? Die Überlegung, ob die deutsche Einheit „vollendet“ sei, führt stets zu der ausschließlich an Ex-DDR-Bürger gerichteten Frage, ob sie im vereinten Deutschland „angekommen“ seien. Dafür gibt es gleichfalls einen literaturgeschichtlichen Vorläufer, die sogenannte „Ankunftsliteratur“, in der junge Menschen dadurch zur Reife gelangen, daß sie das sozialistische Modell als das einzig wahre erkannten und ihren Ehrgeiz dareinsetzten, in ihm „anzukommen“. Ein historischer Irrtum, mindestens so groß wie der, daß der westliche Teil Deutschlands nach 1945 politisch, geistig, kulturell das Ganze und einzig Wahre war und ist und der andere Teil fugenlos in ihm zu verschwinden habe. In diesem falschen Sinn hat noch Hans-Ulrich Wehler im letzten Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ die DDR auf „eine sowjetische Satrapie“ reduziert. Das war sie unbestreitbar und in hohem Maße, doch die Satrapie war Folge und Teil eines gesamtdeutschen Schicksals und insofern nicht weniger authentisch und deutsch als die Existenz der Bundesrepublik.

Das zu thematisieren bedeutet, die Frage auch nach dem Charakter der Bundesrepublik aufzuwerfen, und zwar viel prinzipieller, als die sich kritisch gerierende „Gruppe 47“ in ihrer BRD-Binnenlogik das je vermochte. Der Literaturkritiker Friedrich Sieburg hat 1954 in seinem Buch „Die Lust am Untergang. Selbstgespräche auf Bundesebene“ festgehalten, „daß fremde Garnisonen Macht über unsere Lebensideale, ja über unsere Seelen gewonnen haben, und daß sie dies geschafft haben, weil sie einst mit der Waffe in der Hand gekommen sind“.

Sieburg zählt die Folgekosten auf: den Geist der Denunziation, der die soziale Stimmung beherrscht; den Neid, der sich seinen Ausdruck in subtilen Formen von Heuchelei sucht, als die Kehrseite des Wirtschaftswunders und des neuen Wohlstands. Ein gesamtdeutscher Roman hätte sich damit zu beschäftigen, ob jenseits dieser zwei künstlichen, gerade dahinschmelzenden Identitätskerne Deutschland zumindest als kulturelles, geistiges und sozialpsychologisches Faktum überhaupt noch existiert. Die Dringlichkeit, mit der ein solches Buch nachgefragt wird, spricht dafür.

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