© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  11/09 06. März 2009

Das Gelübde vom Kosovo
In Sorge um die eigene Souveränität
 

Die in JF 6/09 begonnene Artikelserie auf dem Forum zum Konservatismus in europäischen Ländern und in Übersee wird – nach Beiträgen zu Großbritannien sowie Frankreich (JF 8/09) – fortgesetzt mit einem Essay  über die untrennbar mit dem Kosovo-Mythos verbundene nationalkonservative Geisteswelt Serbiens – und kulturgeschichtliche Verbindungen mit Deutschland. (JF)

Nicht erst seit dem jugoslawischen Bürgerkrieg und dem Kosovo-Konflikt müssen die Serben mit dem Ruf leben, sie seien unverbesserliche Nationalisten. Selbst der Reformer und ausgewiesene Demokrat Zoran Djindjić, bis zu seiner Ermordung 2003 Premierminister Serbiens, rechnete damit, als „neuer Milošević“ zu gelten, weil er in der Kosovo-Frage weniger den Erwartungen des Westens als den nationalen Interessen Serbiens entgegenkam. Als die Verhandlungen über die Zukunft der Südprovinz nicht von der Stelle kamen, schlug Djindjić vor, Serben und Albaner sollten in eigenen Entitäten über ihre Belange entscheiden, die Provinz als Ganzes aber bei Serbien bleiben.

Für serbische und kosovo-albanische Radikale hatte der Premier fortan den Stempel des Verräters, und im Westen seinen Nimbus verloren: zwar zum Kompromiß, aber nicht zu einer Aufgabe des Kosovo bereit. Mit dieser Art „nationalistischem Pragmatismus“ konnten die westlichen Unterhändler, die Serbien die Aufgabe des Kosovo abtrotzen wollten, nichts anfangen, genausowenig wie seine internen Gegner. Wenig später wurde Djindjić ermordet.

Den Westen erstaunte, daß ein so „aufgeklärter“ Mann wie Djindjić in nationalen Fragen ebenso konservativ wie die Mehrheit der politischen Klasse Serbiens dachte. Die konservative Sorge um die eigene Souveränität ist Serbien stets als Nationalismus ausgelegt worden, weil es als Zentralmacht auf dem Balkan zwangsläufig die Interessen der Großmächte tangieren mußte. Das konservative, vulgo nationalistische Serbien erklärt die Nationalismus-Schelte gerne mit der anationalen Haltung der übernationalen Reiche der Vergangenheit, die heute im Zeichen der „neuen Weltordnung“ unfrohe Urstände feiere. Serbien habe darin als freier, selbstbestimmter Nationalstaat keinen Platz mehr und werde seiner Souveränität kontinuierlich entkleidet. Autonomiestatute, die die jugoslawischen Kommunisten nur den Serben in der Vojvodina und im Kosovo aufbürdeten, seien ebenso Indiz wie die aktuelle Unabhängigkeit des Kosovo und die parteiische Politik des Westens gegenüber der bosnischen Serbenrepublik.

Das konservative Denken bewegte sich in Serbien stets im Schatten der Niederlage und der Selbstbehauptung als Nation. Sein Gründungsmythos ist der Untergang des christlichen serbischen Heeres auf dem Amselfeld 1389. Im Angesicht einer übermächtigen osmanischen Streitmacht hätten sich die Serben tapfer genug geschlagen, um das Vordringen des Islam in das Herz Europas für einige Jahrzehnte zu verzögern. Daß dieses Opfer den Serben niemals wirklich gedankt wurde und heute der EU-Beitritt der Türkei ernsthaft erwogen wird, legt die serbische konservative Publizistik Europa als zweiten Verrat aus (so zum Beispiel in der Zeitschrift Nova srpska politička misao).

Wenn Europa, der Westen das mehrheitlich muslimische Kosovo dem Islam zum Geschenk machen und die muslimischen Bosnier unterstützen, würden die christlichen Serben ein zweites Mal geopfert. Ihre „altertümlichen“ Werte Mythos, Nation, Ehre und Heimat hätten, wie die konservativen Denker Dragoš Kalajić, Sreten Vujović oder Vojislav Nikčević schrieben, in einem multikulturalistischen, konsumistischen Europa, das sich in blinder religiöser Toleranz selbst aufgebe, keinen Platz mehr. Das Opfer, das die Serben für ihr Volk im Bürgerkrieg gebracht hätten, sei für die europäischen Nationen, die ihrer eigenen Auflösung in der ethnisch entgrenzten Weltgesellschaft gelassen zusähen, schlicht ein Skandal oder Schlimmeres.

Das konservative Denken bewegte sich in Serbien stets im Schatten der Niederlage und der Selbstbehauptung als Nation. Sein Gründungsmythos ist der Untergang des christlichen serbischen Heeres gegen die anbrandenden Osmanen auf dem Amselfeld 1389.

Der Schriftsteller Petar Milatović Ostroški meinte, Denken in nationalen und traditionellen Kategorien werde als Faschismus gebrandmarkt – mit dem Ziel, „der ganzen Welt unter dem Mäntelchen der Universalität die Absenz von Werten aufzuzwingen“, wie es der Philosoph und Balkan-Kenner Jean Baudrillard in einem Kommentar zur Bosnien-Politik formulierte. Botho Strauß nannte das die „liberal-libertäre Selbstbezogenheit“, die es für verwerflich hält, daß ein Volk noch bereit ist, für seine Sprache und sein Sittengesetz Blutopfer zu bringen.

Das höchste Opfer brachten die Serben gemäß ihrer politischen Theologie in den mehr als fünf Jahrhunderten der osmanischen Knechtschaft, womit sie sich als Volk in die Nachfolge des gekreuzigten Heilands gestellt hätten. Vor der Auslöschung als Nation bewahrte sie vor allem ihre orthodoxe Kirche und kulturelle Erwecker wie der später für seinen angeblichen Großserbismus vielgeschmähte Vuk Stefanović Karadžić (1787–1864). Dem von Goethe und den Gebrüdern Grimm hochgeschätzten Philologen ging es darum, die Serben als Sprachnation zu definieren, ein Modell, das die Deutschen vorgeführt hatten.

Die serbische Nation politisch zu verankern, danach strebte der Staatsmann Ilija Garašanin (1812–1874). In seinem ebenfalls gerne als großserbisch apostrophierten „Entwurf“ von 1844 skizzierte er eine nationale Politik, die sich schrittweise von türkischem und österreichischem Einfluß, aber auch von panslawischen Illusionen, was auf Rußland zielte, freimachen sollte.

Der Erste Weltkrieg brachte dem Königreich Serbien zwar gewaltige Verluste, als Mitglied der Entente verwandelte sich die Niederlage aber in einen Sieg. Das Königreich Jugoslawien unter Führung des serbischen Königshauses wurde geschaffen, das auch das Amselfeld, das Kosovo, einschloß. Der Fluch der Untreue und Uneinigkeit in der Schlacht von 1389, der die Knechtschaft über das serbische Volk gebracht hätte, schien mit der Vereinigung gebrochen. Aber die intellektuelle Uneinigkeit blieb. Konnte es sein, daß der Kosovo-Mythos, der doch für die serbische Idenität wesentlich ist, seine Bedeutung verloren hätte, nun da die Serben staatlich geeint waren? Der Moderne-Dichter Miloš Crnjanski hatte 1919 in seinen „Liedern zum Vidovdan“ geklagt: „Wir haben nichts. Weder Gott noch einen Herren. / Unser Gott ist das Blut“. Da die heutige Generation nicht mehr an die alten Mythen glauben könne, müsse ein neuer Weg gesucht werden, nicht nur formal, sondern auch ideell, forderte Crnjanski. Gegen diese „anthropozentrische Wende“ verteidigten die Vertreter der Tradition den theozentrischen Kosovo-Mythos, die Ausrichtung der serbischen Nation auf das himmlische Reich, wie es Fürst Lazar Hrebeljanović vor der Schlacht von 1389 getan hatte.

In der Zwischenkriegszeit verstärkte sich der Widerstand gegen den Säkularismus, der in dem Begriffspaar Westeuropa und Westkirche kulminierte. In der jungen Theologengeneration der Belgrader Universität formierte sich diese nationalkirchliche Opposition, die unter dem Begriff „Svetosavlje“ (Heilig-Savatum oder Sanktsavismus) populär wurde. Der Kult um den Heiligen Sava, den Gründer der Serbischen Orthodoxie, verband sich mit dem Kosovo-Mythos, der russisch inspirierten Slawophilie, dem Antikatholizismus und dem Antimodernismus zu einer mehrdeutigen Ideologie, die auf konfessionelle Abgrenzung und nationalreligiöse Sinngebung zielte. Führende Repräsentanten dieser Denkschule waren die Geistlichen Nikolaj Velimirović und Justin Popović, die in diesem Streit mit besonderer Verve die Lehre von der welthistorischen Mission des Serbentums vertraten, die der seelen- und gottlosen europäischen Moderne nicht geopfert werden dürfe.

Dieses Denken war trotz aller Kritik an Westkirche und westlicher Philosophie durchaus bereit, sich positiv mit dem katholischen Antimodernismus oder mit Leitmotiven der deutschen Konservativen Revolution auseinanderzusetzen. Der Kontrast zwischen Kultur und Zivilisation, den Thomas Mann beschrieb, die Rede von der welthistorischen Rolle des Deutschtums, vom ewigen Deutschland oder die Forderung Ernst Jüngers, den Mythos als Grund der historischen Existenz zu erkennen, fanden in Serbien in Gestalt des „serbischen Messianismus“ ihr politisch-theologisches Spiegelbild: Das orthodoxe Serbien sei in besonderer Weise zur Zeugenschaft gegen die gottvergessene Moderne, gegen Dekadenz und Materialismus berufen.

In den neunziger Jahren lebte die Diskussion über diesen „dritten Weg“ erneut auf. Der national-konservative Publizist Vladimir Trifunović meinte, dieser sei nichts anderes als „die Bestätigung und Bekräftigung des Svetosavlje, wo das Gelübde vom Kosovo neben der Tradition des Grals und der Nibelungen steht, wo das Himmlische Serbien untrennbar steht an der Seite des Himmlischen Frankreich, des Himmlischen Deutschland“. 1941 hatten sich der Nobelpreisträger Ivo Andrić und Carl Schmitt in Berlin ausführlich über politische Theologie unterhalten. Die katastrophalen Folgen des österreichischen Antiserbismus, der an den Führer Großdeutschlands vererbt wurde, machen allzu leicht vergessen, daß kulturgeschichtlich Serben und Deutsche erstaunlich vieles verbindet. Wie die Deutschen litten die Serben nach dem Ersten Weltkrieg darunter, daß Teile ihres Volkes weiterhin unter fremder Herrschaft leben mußten. Auch mußten sie sich nach der Katastrophe des Krieges ihrer Identität neu vergewissern, und das im Unterschied zu Deutschland gegen die beiden anderen Staatsvölker des Königreichs Jugoslawien, gegen Kroaten und Slowenen.

Der Kult um den Gründer der Serbischen Orthodoxie verband sich mit dem Kosovo-Mythos, der russisch inspirierten Slawophilie und dem Antimodernismus zu einer mehrdeutigen Ideologie, die auf konfessionelle Abgrenzung und nationalreligiöse Sinngebung zielte.

Die Versuche, trotzdem die Einheit herzustellen, reichten von großserbischen Allumfassungstheorien – eigentlich seien fast alle Südslawen Serben – über panslawische Appelle – man müsse als Südslawen gegenüber den alten und neuen Unterdrückern zusammenhalten – bis zu der von serbisch-orthodoxen Theologen gepflegten These, wenn erst der Abfall vom Glauben, den die katholischen Habsburger und die muslimischen Osmanen verursacht hätten, geheilt sei, werde auch das Staatsvolk wieder die Einheit finden, die die fremde Herrschaft zerstört hatte.

Die Krise des Kosovo-Mythos der Zwischenkriegszeit war mit der Besetzung Jugoslawiens 1941 auf einen Schlag beendet. Daß die Serben zum Leiden in der Nachfolge des Herrn berufen seien, führe ihnen die blutige Realität des Krieges vor Augen, so Bischof Nikolaj Velimirović, der im KZ Dachau inhaftiert war. Der Bischof geißelte die NS-Ideologie als Ausgeburt der gottlos-technizistischen Moderne. Die Moderne habe die Vertikale, die Schöpfer und Geschöpf verbinde, vergessen.

Diesem Grunddefizit der Moderne unterlag aus naheliegenden Gründen auch Präsident Slobodan Milošević, der zum 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld am 28. Juni 1989 jene berühmt-berüchtigte Rede hielt. Entgegen herkömmlicher Meinung war sie jedoch keine Beschwörung des politisch-theologischen Mythos, dem er als Atheist nur reserviert gegenüberstehen konnte. Er beschwor vielmehr die Motive der Einheit und Brüderlichkeit, zu deren Fundierung der Kosovo-Mythos in jugoslawistischer Umdeutung herhalten mußte. Die Serben wie auch ihre Kirche haben Milošević allzu lange Glauben geschenkt, weil er schamlos in konservativ-nationaler Begrifflichkeit schwelgte, ohne ihre tieferen Inhalte zu teilen. Milošević hätte das Kosovo nur für den Machterhalt mißbraucht, das Schicksal der Serben im Kosovo wäre ihm völlig gleich gewesen, meinte der serbische Thronfolger Aleksandar Karadjordjević, der das Nato-Bombardement von 1999 wiederholt einen „kriminellen Akt“ nannte.

Den Makel, mit dem Serbien als Folge der Politik Miloševićs bis heute leben muß, lehnen serbische Nationalkonservative ab, weil er die Schuld der anderen, die ebenso klar nationalistsche Ziele verfolgten, konsequent ausblende. Auch sei es erniedrigend, wenn Serbien sein schlechtes Gewissen vor dem angeblich fortschrittlicheren Westeuropa dadurch kompensiere, mit allen Mitteln, auch dem der Selbstaufgabe, in die EU zu drängen. Denn es gebe keinen Grund für ein schlechtes Gewissen, vor allem nicht gegenüber einem seelenlosen EU-Europa, das nicht das wahre Europa verkörpere, so der serbische Metropolit Amfilohije Radović: „Nicht nur durch unser Verdienst, sondern durch ein Geschenk Gottes, sind wir Träger und Bewahrer des ursprünglichen jerusalem-mediterranen Europäertums. Und dieses Europäertum will vor allem einen Verlust nicht hinnehmen: Den Verlust jenes Gleichgewichts in der menschlichen Existenz, in der sich Horizontale und Vertikale des Heiligen Kreuzes treffen. Der Westen hat sich zu sehr dem Materiellen verschrieben, der Vergöttlichung seiner Werke. Gier und niedriger Verstand sind sein Glaube.“

 

Foto: Belgrad, St.-Sava-Kathedrale mit der Statue Karadjordjes (um 1762 bis 1817), Anführer der nationalen Erhebungen gegen die türkische Fremdherrschaft:

Mythos, Nation, Ehre und Heimat im Widerstand gegen ein multikulturalistisches, konsumistisches Europa

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