© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  10/09 27. Februar 2009

Kleinasien entfernt sich von Brüssel
Amalia van Gent porträtiert die Türkei auf dem Scheideweg zwischen Europäischer Union und der Wortführerschaft in der islamischen Welt Vorderasiens
Heinz Odermann

Unter den Türkei-Büchern des vergangenen Herbstes ragt das Werk von Amalia van Gent besonders hervor. Die Autorin lebt seit dreißig Jahren im Lande. Seit zwanzig Jahren arbeitet sie als Türkei-Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung. Was sie in ihrem Buch aussagt, ist von authentischer Kraft aus ihrer jahrzehntelanger Erfahrung. Sie schreibt fesselnd und klug, mutig und sachlich und mit Liebe zum türkischen Volk. Sie vermittelt ein Bild der Türkei aus Geschichte und Gegenwart mit ihren Leistungen und Fortschritten, mit ihren Verwerfungen und Verbrechen. Amalia van Gent widmet ihr Buch dem armenischen Journalisten Hrant Dink, „der das Unmögliche möglich machen wollte und dafür sterben mußte“, wie sie schreibt.

Es war Freitagmittag, am islamischen Feiertag, als Hrant Dink am 9. Januar 2007 in Istanbul ermordet wurde. Augenzeugen hörten den Täter rufen: „Ich habe den Ungläubigen erschossen.“ Der „Ungläubige“ war ein Christ, der Chefredakteur der armenischen Wochenschrift Agos. Er wollte Brücken bauen zwischen Türken und Armeniern und die Geschichte des Völkermords an den Armeniern, besonders der Exzesse von 1915/1916, gemeinsam aufarbeiten.

Die Türkei ist ein Staat mit vielen ethnischen und religiösen Minderheiten, die in der turkstämmigen Mehrheitsgesellschaft nicht gleiche Rechte genießen. Die Staatsführung läßt nicht nur die schwer auf den Minderheiten lastenden sozialen, politischen und kulturellen Probleme unbeantwortet, sondern nach Beobachtung der Autorin auch die Frage nach der Religionsfreiheit, nach der Anerkennung des Christentums und anderer Religionen als gleichgestellter Glaubensbekenntnisse neben dem Islam.

Unbeantwortet bleibt in der Praxis die Frage nach der Meinungsfreiheit. Von Januar 2006 bis September 2007, berichtet die Autorin, sind 1.198 Strafsachen gegen oppositionelle Intellektuelle, vor allem gegen Schriftsteller, Journalisten, Anwälte und Abgeordnete anhängig. Das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Bekenntnis- und Glaubensfreiheit sowie die Probleme der Minderheiten gehören nach Ansicht der Autorin zu den vergrabenen Minen. Die wirkliche Einbeziehung zum Beispiel der Kurden in die türkische Gesellschaft ist – ungeachtet kleiner vernünftiger Schritte der jüngsten Zeit wie der Einführung eines staatlich kontrollierten Fernsehens in kurdischer Sprache – bis heute nicht gelungen. Noch 2008 wurde die populäre kurdische Politikerin Layla Zana wegen kurdenfreundlicher Propaganda zu zehn Jahren Haft verurteilt. Mit dem Urteil drückte das Gericht seine Mißachtung des Europäischen Parlaments aus, das der mutigen kurdischen Politikerin den Sacharow-Friedenspreis verliehen hatte.

Amalia van Gent verweist auf die Kontinuität des Unrechts und des Terrors. 2008 hatte die Türkei einen tragischen Rekord bei Tötungen, die der Erklärung der Regierung, das Land befinde sich auf dem Weg zum Rechtsstaat, Hohn sprechen: 17 junge Menschen zwischen 14 und 28 Jahren sind auf offener Straße von Polizisten erschossen worden. Sie waren Türken nicht-islamischen Glaubens und Kurden. Die Polizisten wurden weder entlassen, noch sind gegen sie Strafverfahren eingeleitet worden. 2008 war im Land des EU-Beitrittskandidaten das Jahr der schwersten Menschenrechtsverletzungen. Oppositionelle in der Türkei sagen, es seien die schlimmsten seit zehn Jahren gewesen.

Entlang dieser politischen Entwicklungen und Probleme, schreibt Amalia van Gent, verlaufen die großen Bruchlinien des Landes. Aus ihrer Sicht ist die Frage noch nicht beantwortet, ob die türkische Staatsführung sich nach europäischen Normen in die EU integriert oder ob sie zur Triebkraft des Islam in Europa werden will.

Staatspräsident Abdullah Gül und Ministerpräsident Recep Tayyig Erdoğan sind fromme Sunniten, und sie stützen sich auf eine religiöse Partei, die ihre Wurzeln im politischen Islam hat. Noch sei unklar, ob der islamisch geprägte vorderasiatische Staat den für ihn steinigen Weg in die EU bewältigen oder ob er einen führenden Platz in der islamischen Welt einnehmen wird.

Amalia van Gent: Leben auf Bruchlinien. Die Türkei auf der Suche nach sich selbst. Rotpunktverlag, Zürich 2008, broschiert, 320 Seiten, Abbildungen, 24 Euro

Foto: Massenproteste in Istanbul bei Hrant Dinks Beerdigung 2007: Kontinuität des Terrors

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