© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  09/09 20. Februar 2009

"Gigantische Camouflage"
Europäische Gemeinschaft: Nach der Anhörung des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag bleiben Zweifel
Peter Freitag

Wird Europa mit dem Lissabon-Vertrag effizienter und transparenter regiert, wie dessen Befürworter meinen, oder gehen mit ihm demokratische Mitbestimmungsrechte verloren, wie seine Kritiker überzeugt sind? Dies sind im Kern die beiden konträren Positionen, die am Dienstag und Mittwoch vergangener Woche vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe aufeinandertrafen. Als Beschwerdeführer gegen den Vertrag traten in der mündlichen Verhandlung vor dem Zweiten Senat unter anderem der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler, die Bundestagsfraktion der Linkspartei sowie eine Klägergruppe um den ehemaligen Europa-Abgeordneten Franz-Ludwig Schenk Graf von Stauffenberg, den früheren Thyssen-Manager Dieter Spethmann und den Wirtschaftswissenschaftler Joachim Starbatty auf. Prozeßgegner waren die Bundesregierung sowie Bundestag, vertreten durch den Vizekanzler und Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) und den Bundestagsabgeordneten Gunther Kirchbaum (CDU), Vorsitzender des Europa-Ausschusses.

Die Richter gaben beiden Seiten Gelegenheit, ihre jeweilige Position darzulegen, und stellten eigene, durchaus kritische Fragen; die zielten während des ersten Verhandlungstages vor allem in Richtung der Vertragsbefürworter. Außenminister Steinmeier hob hervor, daß die aus 27 (oder bald mehr) Einzelstaaten bestehende EU nur mit dem Vertrag von Lissabon ihre Handlungsfähigkeit erhalten könne. Dies liege vor allem an der Erweiterung der Mehrheitsentscheidungen anstelle des Einstimmigkeitsprinzips und an der Einführung eines ständigen Vorsitzes im Europäischen Rat, der das bisherige Rotationsprinzip ablöse. Im Zeichen globaler Krisen könne sich auch Deutschland nicht mehr "alleine behaupten", mahnte Steinmeier. Sein Kabinettskollege Schäuble betonte, daß nicht jede "Aufgabenwahrnehmung auf supranationaler Ebene" einen Verlust von nationaler Souveränität bedeute. Im Gegenteil werde durch den Lissabon-Vertrag gerade das Europaparlament "zum vollwertigen Mitgesetzgeber neben dem Rat".

Kritische Fragen und Anmerkungen

Gerade in diesem Punkt widersprach ihm Gauweilers Prozeßbevollmächtigter deutlich. Der Freiburger Staatsrechtler Dieter Murswiek betonte, daß das Europäische Parlament - obwohl es mehr Rechte bekomme - noch weit davon entfernt sei, ein "wirklich demokratisches Parlament" zu sein. Vor allem werde es, stellte Murswiek in Anspielung auf die unterschiedlichen Stimmengewichtungen der EU-Mitgliedsstaaten fest, "in einem undemokratischen Verfahren gewählt". Er nannte in seiner Stellungnahme den Vertrag von Lissabon eine "gigantische Camouflage". Ohne daß der deutsche Souverän gefragt werde, wandle sich die Europäische Union "von einem ursprünglich wirtschaftlich ausgerichteten Integrationsverbund zu einem staatsanalogen Konstrukt". Mit seiner Zustimmung habe der Bundestag daher seine Kompetenzen überschritten. Faktisch sei der Vertrag die bloß umbenannte, an den Referenden der Niederlande und Frankreichs im Jahr 2005 gescheiterte EU-Verfassung.

Einigkeit herrschte unter den Vertragsgegnern darüber, daß mit "Lissabon" die vom Grundgesetz gezogene Grenze überschritten werde, bis zu der eine Übertragung von deutschen Hoheitsrechten erlaubt ist. Während der Befragung der Prozeßparteien ließen einige Richter durchblicken, daß sie gerade im Hinblick auf die bisherige Kompetenzausweitung der EU dieser Sichtweise der Beschwerdeführer zuneigten.

Auf die Frage, ob mit einem möglichen Scheitern des Lissabon-Vertrags nicht die Stellung Deutschlands innerhalb der EU gefährdet sei, entgegnete Gauweiler: "Das Gegenteil ist richtig. Viele Verfassungsrechtler in anderen europäischen Staaten setzen ihre Hoffnungen gerade auf das Bundesverfassungsgericht. Von ihm erwarten sie eine klare Wegweisung gegen die Politik der immer stärkeren Apparate in der EU", so der Bundestagsabgeordnete am Rande der Verhandlung. Daß er als Beschwerdeführer praktisch an der Seite der Linkspartei erscheint, stört den CSU-Politiker nicht: "Es ist doch klar, daß unterschiedliche politische Richtungen auf unterschiedliche Schwächen des Vertrages hinweisen", sagte Gauweiler.

Die kritischen Fragen und Anmerkungen der Richter werteten manche Beobachter als Indiz dafür, daß der Lissabon-Vertrag vor den deutschen Verfassungshütern nicht ohne Änderungen oder Einschränkungen bestehen könne. Mit einem Urteil in Karlsruhe wird im Frühjahr gerechnet.

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