© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  08/09 13. Februar 2009

Renates Schulmädchenreport
Eine Frage der Glaubwürdigkeit: Zur Diskussion um die Aufnahme der Guantánamo-Häftlinge
Doris Neujahr

Fürst Bismarck hielt das Niveau des Parlaments für mangelhaft. Das Geschnatter rot-grüner Politiker, die partout Guantánamo-Häftlinge nach Deutschland holen wollen, obwohl sich unter ihnen kein einziger Deutscher befindet, illustriert vor aktuellem Hintergrund, warum der Eiserne Kanzler den Abgeordneten keinen Einfluß auf außenpolitische Entscheidungen gewährte.

In der Außenpolitik nimmt der Nationalstaat seine äußeren Interessen wahr und setzt sie durch. Das bedingt Staatlichkeit, die Fähigkeit und den Willen, seine Interessen zu bestimmen, sowie einen realistischen Bezug zur Umwelt. Gerade das traute Bismarck den Parlamentariern nicht zu. Sie würden gefühlsmäßig entscheiden, ihre innenpolitischen Händel, Eifersüchteleien, Tagträume und ideologischen Vorlieben auf die äußeren Verhältnisse übertragen und damit das Land ins Chaos führen.

Die Deutschen, spottete er am 28. Januar 1886 im Plenum, hätten "die eigentümliche Befähigung (...), die sich bei keiner anderen Nation wiederfindet, aus der eigenen Haut nicht nur heraus-, sondern in die eines Ausländers hineinzufahren". Eine besondere "Gutmütigkeit und Bewunderung alles Ausländischen" sei ihnen eigen und "dann auch die Tradition, die eigene Regierung zu bekämpfen". Das Protokoll vermerkte Heiterkeit. Die Abgeordneten lachten sich selber aus.

Denn daß sie genau dem Bild entsprachen, das Bismarck hier gezeichnet hatte, daran zweifelte auch der Soziologe und Bismarck-Kritiker Max Weber nicht. Immer wieder fand er scharfe Worte zur "unpolitischen Art der Heldenverehrung", über die Phrasendrescherei und Sentimentalität, die die außenpolitischen Debatten prägten. Die Hauptschuld daran gab er Bismarck selbst. Dessen dynastisches Verständnis und autoritärer Regierungsstil hätten bürgerliche Politiker von den Staatsgeschäften ausgeschlossen, was zum Mangel an "politischem Verantwortungsgefühl" und zum "tief herabgedrückten geistigen Niveau" des Reichstags geführt habe.

Das wurde nach der Parlamentarisierung Deutschlands 1918/19 sichtbar. Viele Sozialdemokraten glaubten, ein Appell an die Solidarität des internationalen Proletariats könne einen Raubfrieden abwenden. Liberale nahmen die alliierte Kriegspropaganda für bare Münze und spekulierten, ihr Einsatz für ein entmilitarisiertes, liberales, republikanisches Deutschland würde ihnen von der Gegenseite honoriert werden. Ihre Hilf- und Abwehrlosigkeit bei den Verhandlungen bereitete den Siegern eine sadistische Freude.

Ähnliches kann sich wiederholen, falls die Amerikaner auf die Idee kommen, Deutschland zu ersuchen, ihnen einen Teil des selbstgeschaffenen Gefangenen-Problems abzunehmen. Oft genug und ungefragt hat Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) zu verstehen gegeben, daß er die Ankunft von Afghanistan-Veteranen kaum erwarten kann. Ihre Aufnahme sei "eine Frage der Glaubwürdigkeit"!

Darin steckt eine vertrackte Wahrheit, denn das Argument realpolitischer Verläßlichkeit oder Berechenbarkeit sticht hier nicht. "Glaubwürdigkeit" klingt nach "Betroffenheit", nach: "Ich bin klein, mein Herz ist rein!", nach: "Diesen Kuß der ganzen Welt!" Ein solches Vokabular gehört in den Bereich der Religion, der Metaphysik, der Kunst, aber nicht in die Sphäre des Politischen, wo es um die verantwortbare Mitte zwischen Geist und Welt, zwischen Idealismus und Pragmatismus geht.

Steinmeier mißversteht seine Aufgabe als Außenminister, wenn er die deutsche Innerlichkeit, die im politischen Raum nichts weiter als Sentimentalität bedeutet, treuherzig nach außen stülpt. Soweit seine Motive darüber hinaus irgendeine politische Tendenz haben, erweist diese sich als kleinlich. Gegenüber den USA will der Kanzlerkandidat aus dem Schatten Gerhard Schröders treten, innenpolitisch will er seine in der eigenen Partei kritisierte Zurückhaltung im Fall des "Bremer Türken" und Guantánamo-Häftlings Murat Kurnaz (für den Deutschland rechtlich überhaupt nicht zuständig war) vergessen machen.

Meilenweit ist er entfernt von der diplomatischen Raffinesse und Umsicht seines britischen Kollegen David Miliband, der erklärte, sein Land habe bereits neun Ex-Häftlinge britischer Staatsbürgerschaft aufgenommen sowie drei, die vor ihrer Festnahme in Großbritannien gelebt hätten. "Das Vereinigte Königreich hat bereits einen bedeutsamen Beitrag zur Schließung Guantánamos geleistet, aber wir sind gerne bereit, unsere Erfahrung bei der Wiedereingliederung dieser Menschen mit anderen EU-Staaten zu teilen."

Auch der grünen Fraktionschefin im Bundestag, Renate Künast, fehlt das Verständnis für solches Understatement. "Ich will einmal daran erinnern: Nach dem Zweiten Weltkrieg, den Deutschland angefangen hat, hat Deutschland durch die USA und andere Länder massive Hilfe erfahren. Ich erinnere nur an den Marshall-Plan, die Care-Pakete, die Berliner Luftbrücke. Wie kann man da heute sagen, die USA sollen das Problem selber lösen." Die FAZ äußerte sich "todtraurig über den Zustand der politischen Rede in der Bundesrepublik", Künast traue "den Leuten nicht zu, andere Bilder und Metaphern zu verstehen als Rosinenbomber und glückliche Kinder".

Nun, noch viel trauriger muß uns stimmen, daß Künasts Rede den Zustand des politischen Denkens und Entscheidungsniveaus im Land adäquat wiedergibt. Es geht nicht darum, welche Geschichtsbilder und -metaphern die Ex-Ministerin uns zutraut, sondern darum, daß sie selber über keine anderen verfügt. Um aus ihrem historischen Schulmädchenreport den politischen Kern herauszuschälen: Am Ende des zweiten Dreißigjährigen Krieges gegen Deutschland standen die Russen mit einer gewaltigen Militärmacht an der Elbe, die bis an den Atlantik vorzustoßen drohte. Sogar für die Amerikaner, die vor dem Zweiten Weltkrieg den Rhein zu ihrer Grenze bestimmt hatten, wäre das eine ungemütliche Angelegenheit geworden. Da sie die Westdeutschen als Bündnispartner brauchten, mußten sie sie wieder aufpäppeln. Wie kann man daraus folgern, Deutschland hätte die moralische Pflicht, den USA Guantánamo-Häftlinge abzunehmen?

Die konsequente Parlamentarisierung der Politik nach 1949 verhindert heute nicht die "unpolitischen Art der Heldenverehrung" und das "tief herabgedrückte geistige Niveau" in der außenpolitischen Diskussion. Der Systemfehler liegt also noch tiefer, als Max Weber meinte, oder ein neuer wurde seitdem implantiert. Bloß - wo liegt er? Wer oder was drückt das Niveau?

Foto: Häftling im Lager Delta 4 des Marinestützpunkts Guantánamo Bay und US-Soldat (2007): "Rosinenbomber und glückliche Kinder"

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