© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/09 16. Januar 2009

Hinter jeder Fassade die Verwesung
Berichterstattung aus der Gruft: Zum 200. Geburtstag des US-Schriftstellers Edgar Allan Poe
Harald Harzheim

Nicht allein, daß Zeitungen und Magazine seine bevorzugten Publikationsorgane waren. Nein, sein Tempo, das ihn zum Journalismus, zur Produktion von "Literatur für einen Tag" befähigte, bedingt durch innere Unrast, gepaart mit Klärungsbedarf mittels Recherche und Analyse - all das prägte auch sein dichterisches Schaffen. Nicht umsonst wurde Edgar Allan Poe zum Begründer der Detektivliteratur. Als Spurensucher und Erforscher von Seele und Motiven verdichtet sich der Journalist Poe selbst zur Figur des Detektivs Auguste Dupin, der mit der Meerschaumpfeife im Mund auf wenigen Seiten dunkle Geheimnisse lichtet. Ohne ihn kein Sherlock Holmes, kein Sam Spade und kein Philip Marlowe.

Im dynamischen Rhythmus der Tagespresse produzierte Poe Kritiken, Polemiken, Kurzgeschichten und Lyrik, die - wie seine Ballade "The Raven" (Der Rabe, 1844) - meist in Zeitungen erste Veröffentlichung fanden. Mit ihm begann die originär amerikanische Literatur, angeheizt durch Vorbilder aus deutscher Romantik, Schelling und vor allem Friedrich de la Motte-Fouqué. Poe war der Seelenarchäologe in einer Kultur, die nur Zukunft und Fortschritt kannte.

Heute ist sein Name untrennbar verbunden mit der Horror-Kurzgeschichte. Darin präsentiert er seine Recherchen aus der Gruft, wo lebendig Begrabene verzweifelt gegen den Sargdeckel hämmern ("The Fall of the House of Usher", Der Untergang des Hauses Usher, 1839),  Hypnotisierte nicht sterben können und zu Zeugen eigener Verwesung werden ("The Facts in the Case of Valdemar", Die Tatsachen im Falle Waldemar, 1845), wo unzählige Ängste, unaufhaltbare Selbstzerstörungstriebe zur Herrschaft gelangen. Nichts (Un‑)Menschliches entging diesem frühen Erkunder des Schreckens. Dabei brauchte er für seine Recherchen nicht weit zu reisen: Er fand sämtliche Höllen in sich selbst.

In Boston kam Edgar Poe am 19. Januar 1809 als Sohn des Schauspielerehepaars David und Elizabeth Poe zur Welt. Bald nach der Geburt verließ der Vater seine Familie. Die Mutter, schwindsüchtig und als Alleinerziehende hoffnungslos überfordert, beruhigte den kleinen Edgar mit alkoholgetränkten Lutschbonbons, ein damals übliches Verfahren. Das Kind wurde zum Zeugen ihres Siechtums, sah die schwerkranke Frau in der Theatergarderobe, wenn sie nach der Vorstellung ihr buntes Make-up entfernte und darunter ihr bleiches, vom Tod gezeichnetes Gesicht offenbarte. Verarmt und auf Almosen angewiesen, stirbt Elizabeth Poe 1811 im Alter von 24 Jahren. Hinter jeder Fassade wird der Sohn später Verwesung ahnen und die Nähe zu sterbenskranken Frauen suchen: zu seiner Nichte beispielsweise, die er als 13jährige heiratete. Auch sie litt unter Schwindsucht und hieß wie der Bundesstaat, in dem Poes Mutter starb: Virginia. Nach elf Jahren Ehe erlag sie ihrem Leiden.

Wie unter Wiederholungszwang ließ Poe seine literarischen Frauenfiguren sterben, als Madeline Usher, Ligeia, Berenice oder Lenore. Allesamt Somnambule, durch unerklärliches Siechtum ermattet, versinken sie in tiefe Bewußtlosigkeit. Man erklärt sie für tot, nur: Sie sind es nicht. Lebendig begraben, brechen sie zuletzt ihren Sarg auf und kehren zurück. Ein Höllenkreis der Angst, wo Auferstehung nicht weniger furchtbar ist als der Tod. Poes Postulat, nichts sei poetischer als der Tod eines schönen Mädchens, lautet übersetzt: Nichts bedarf so sehr poetischer Verklärung, um ertragen zu werden. Nur durch Transformation ins dichterische Werk haben die real verstorbenen Frauen Bestand.

Der junge Waisenknabe wurde in Richmond/Virginia von dem Ehepaar Allan aufgenommen. Die versuchten ihn für den kaufmännischen Beruf auszubilden, was ihm aber nicht lag. Auch als Soldat hielt er es nicht lange aus. Schon früh war es die Poesie, die ihn anzog.

So begann er in New York ein Leben als Journalist und Autor, brachte es zum Redakteur beim Evening Mirror und beim Burton's Gentleman's Magazine, war Chefredakteur beim Wochenblatt Broadway Journal oder schrieb für das Monatsmagazin Godey's Lady's Book. In die Geschichte des Journalismus katapultierte sich Poe mit dem "Great Ballon Hoax" (Der große Ballonschwindel), einer spektakulären Zeitungsente, die kaum hinter Orson Welles' 1938 als Pseudoreportage im Radio ausgestrahlter Hörspielfassung von H. G. Wells' "War of the Worlds"  (Krieg der Welten, 1898) über den Angriff der Marsmenschen zurückbleibt. Er "berichtet" darin über Monck Mason, der mit seinem Ballon von London nach Weilburg (Deutschland) fliegen wollte. Nach einem Propellerschaden kam er vom Kurs ab, trieb über den Atlantik und landete in South Carolina.

Am 13. April 1844 erschien diese Vorwegname von Charles Lindberghs Ozeanflug in der New York Sun. In kürzester Zeit war das Blatt ausverkauft. Masons Abenteuer las sich derart glaubwürdig, daß Poe selber nicht imstande war, euphorisierte Bürger von der Unwahrheit seines Artikels zu überzeugen. Ein Beispiel dafür, wieviel Gewalt dieser Autor über die Imagination seiner Leser besaß. Diese Qualifikation zum Imperator über menschliche Einbildungskraft war es wohl auch, die später konservative Revolutionäre wie Ernst Jünger oder Arthur Moeller van den Bruck faszinierte. Letzterer war Herausgeber der ersten deutschen Poe-Gesamtausgabe (1901-04).

Aber jene aufgehetzte Phantasie trieb Poe zugleich in die Arme der großen Beruhiger Alkohol und Opium. Finanziell oft am Existenzminimum vegetierend, von Depressionen zerfressen, lag der Dichter mehr als einmal betrunken im New Yorker Rinnstein. Dieser Alptraum von Existenz findet auch metaphysischen Niederschlag: In "Heureka" (1848), einem platonischen Dialog über Kosmologie, verneint Poe die Idee der göttlichen Gerechtigkeit. Alles Seiende, materiell wie spirituell, sind ihm die Überbleibsel eines Gottes, der in einem metaphysischen "Urknall" zersplitterte, aus dem zugleich das Universum entstand. Die Wiederherstellung Gottes ist der Sinn des irdischen Geschehens, alles Lebendige lebt und leidet für dieses Ziel. Dieser Gott teilt das Schicksal der literarischen Heldinnen Poes: Verfall, Auferstehung, dazwischen der Scheintod. Das Universum - ein riesiges Grab, in dem der scheintote Gott lebendig begraben liegt.

Aber Poe konnte mit dieser Relativierung des Individuums - als Werkzeug für die Auferstehung Gottes - keinen Frieden schließen. In der Kurzgeschichte "Ligeia" (Ligeia, 1839), die ihm als seine am besten gelungene galt, beschreibt er das Menschenleben als Drama, dessen Held der "Sieger Wurm" sei: "Doch sieh'! Ein kriechend Wesen schleicht / jetzt langsam auf die Menge zu - / von Blut gerötet wand es sich / aus meiner Höhle Einsamkeit. / Es naht! - Es naht! Zum Fraße raubt's / die angstzerquälten Spieler sich, / die Seraph' seufzen, da des Wurmes Zahn / des Menschen Leib benagt."  

Wer in derartiger Verzweiflung seine Tage verbringt, dem scheinen gesellschaftliche Zwänge vergleichsweise harmlos, so daß Poe sie auch nicht respektierte. Als Journalist und Rezensent schrieb er ätzende Kritiken, griff die großen literarischen Autoritäten seiner Zeit an. Zumal er als existentiell Gequälter das Hohlschwätzerische der "Kulturschaffenden" kaum ertrug: jenes unerträgliche Geschwätz, das den Ich-Erzähler aus "The Tell-Tale Heart" (Das verräterische Herz, 1843) schließlich zum Wutausbruch, zur Offenbarung seiner mörderischen Seele zwingt. Diese Rücksichtslosigkeit gegenüber Zeitgeist und Erfolg ließ die Kollegen auf Distanz gehen, machte den Unglücklichen restlos zum Außenseiter.

Edgar Allan Poe starb am 7. Oktober 1849 im Alter von 40 Jahren - unter immer noch ungeklärten Umständen. Man fand ihn zusammengeschlagen und ausgeraubt in Baltimore. Keiner seiner Biographen besaß Poes detektivischen Spürsinn, um die letzten Tage glaubwürdig zu erhellen. Selbst mit seinem Tod beherrscht der finstere Poet noch die Phantasie seiner Leser, inspirierte zahlreiche Autoren oder Comic-Zeichner zu grausigen Spekulationen über die finalen Stunden.

Die späten Fotos zeigen ihn ausgebrannt und ermüdet. Wahrscheinlich wäre er längst vergessen, wenn Höllenspezialist Charles Baudelaire für die Verdammten seiner Erzählungen nicht  genausoviel Verständnis aufgebracht hätte wie für die Verzweifelten in Richard Wagners Musikdramen. Durch Baudelaires Übersetzungen (1856/57) wurde Poe erst in Frankreich, dann weltweit berühmt. Aber da war der Meister des Makabren schon lange tot.

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