© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/09 09. Januar 2009

Der Kern der Geschichte
Israelische Militäroffensive in Gaza: Politisch gibt es nichts zu gewinnen
Günther Deschner

Man sollte meinen, daß Schuldzuweisungen die Sache von Lobbyisten sind. Manche Politiker und Journalisten ergreifen jedoch in dem neuen Nahostkrieg, den Israel gerade führt, so stark Partei, daß der Eindruck entsteht, als hielten sie Sachverstand, Objektivität der Berichterstattung und Unabhängigkeit des Urteils für etwas Unanständiges. Von viel zu vielen Medienmachern und Politikern wird so prädisponiert geurteilt, daß man meinen könnte, die Nahostgeschichte hätte erst vor zwei Wochen begonnen, und ein wilder Haufen vollbärtiger, antisemitischer, muslimischer Wahnsinniger, den Kloaken Gazas entstiegen, hätte mir nichts, dir nichts damit angefangen, selbstgebastelte Raketen auf das friedliebende Israel abzufeuern und erhalte jetzt von der israelischen Luftwaffe die verdiente Lektion. Am peinlichsten hat Angela Merkel die Dinge versimpelt, als sie verlauten ließ: "Die Verantwortung für die Eskalation liegt ausschließlich bei der Hamas."

Ganz so eindimensional ist die Geschichte aber nicht. Es erinnert ein wenig an Hegels "List der Idee", wenn man liest, daß es vor allem die Einschläge von in Gaza abgefeuerten Hamas-Raketen in der Küstenstadt Aschkalon waren, mit denen Israel seine Angriffe im Gazastreifen begründete. Denn es sind just jene Palästinenser, die in und um Aschkalon, dem früheren Madschal, lebten, die 1948 von Israel vertrieben und enteignet wurden und in Gaza gestrandet sind. Sie oder ihre Kinder, Enkel und Urenkel machen ein Gutteil jener eineinhalb Millionen Palästinaflüchtlinge aus, die man in die 360 Quadratkilometer namens Gazastreifen gepfercht hat - halb so groß wie Hamburg und doppelt so dicht bevölkert. Das ist der Kern der Geschichte. Diese Menschen haben seither keine Ermutigung, die Landnahme, die Vertreibung, das Flüchtlings­elend zu vergessen. Das entschuldigt nicht alle ihrer antiisraelischen Reaktionen, es erklärt sie aber.

Solange es Israel gibt, also seit sechzig Jahren, kulminieren die ungelösten Spannungen am sichtbarsten in Gaza - für beide Seiten ein Alptraum. Schon David Ben Gurion hatte 1948 Angst, den Befehl zum Einmarsch in das Gebiet zu geben. Und in den neunziger Jahren wünschten sich die Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin und Shimon Peres Gaza einfach weg. Man müßte den Landstreifen, sagten sie, einfach im Meer versenken können.

Wann und wie das aktuelle Blutvergießen endet: Es wird nur eine Ruhepause vor neuen Katastrophen sein. Militärexperten fragen sich, was Israel mit dem Einmarsch eigentlich gewinnen will - denn das offizielle Ziel der gesamten Operation, wie es Verteidigungsminister Ehud Barak interpretiert, bleibt vage. Angestrebt ist eine "radikale Veränderung der Sicherheitslage" in Südisrael, damit dieser Landesteil künftig nicht mehr vom Raketenbeschuß der Palästinenser bedroht wird. Handelt es sich um Politikerprofilierung für die im Februar stattfindenden Wahlen? Oder wirklich um die Abwehr einer tödlichen Bedrohung?

Kritiker der israelischen Aktion weisen auf ihre Unverhältnismäßigkeit hin: In den letzten sieben Jahren sind 17 Israelis durch Raketen aus dem Gaza­streifen getötet worden. Es ist Israels unbestrittenes Interesse, diese Gefährdung seiner Bürger nicht länger hinzunehmen und auf seinem Recht zur Selbstverteidigung zu bestehen. Im Westen, auch in Berlin, gilt es als "unverhandelbar". Im selben Zeitraum wurden aber auch mehr als 4.000 Palästinenser durch israelische Aktionen getötet. Und im Westjordanland, aus dem gar keine Raketen abgeschossen wurden, starben allein 2008 fünfundvierzig Palästinenser von israelischer Hand. Dagegen pochen auch Palästinenser auf ihr Recht zur Selbstverteidigung. Sie können nicht verstehen, daß man dies nicht ebenfalls "unverhandelbar", sondern "Terror" nennt.

Sicher wird Israel als stärkste Militärmacht im Nahen Osten militärisch als Sieger aus dem aktuellen Gaza-Krieg hervorgehen. Politisch wird es damit aber nichts gewinnen. Denn auch die so-und-sovielte Militäraktion kann in Gaza nicht den Boden bereiten, auf dem politikfähige Parteien als Partner entstehen. Radikale Gruppen werden ihre Angriffe nie gänzlich einstellen, wenn sich die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen nicht ändern. Selbst das allmächtige Israel hat es nicht geschafft, Attacken zu unterbinden, als es noch Besatzungsmacht von Gaza war und das Gebiet unter Kontrolle hatte. Die Hamas verschwindet nicht, indem man sie boykottiert und gleichzeitig 1,5 Millionen Palästinenser aushungert.

Das Ziel der Hamas lautet: Stopp der Militäroperation, Ende der Blockade des Gazastreifens und Öffnung aller Grenzübergänge. Seit April 2008 wird in der Hamas auch offen über die Anerkennung Israels diskutiert - in den völkerrechtlichen Grenzen von 1967. Das entspricht übrigens exakt dem Plan, den Saudi-Arabien als arabische Führungsmacht schon mehrfach in die Politik eingeführt hat. Ein politisches Verhandeln um diese Forderungen könnte auch Israel mehr einbringen als die nun schon mehr als 60 Jahre andauernde Abfolge von Kriegen, Waffenstillständen, Vergeltungsaktionen, Selbstmordanschlägen und "gezielten" Tötungen. Auch der iranische Einfluß, in dem Israel eine Bedrohung seiner Lebensinteressen erkennt, wird weiter zunehmen, je mehr die Hoffnung der Palästinenser auf ihren eigenen Staat schwindet.

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