© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/09 09. Januar 2009

Die Unlust am eigenen Land
20 Jahre Mauerfall: Der Geist der Freiheit ist verflogen und es etabliert sich eine Antifa-Republik
Thorsten Hinz

Von den anstehenden Jubiläen ist der 20. Jahrestag des Mauerfalls das wichtigste und erfreulichste. Am Abend des 9. November 1989 waren die Deutschen "das glücklichste Volk auf der Welt", sagte Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper damals. Der Atem der Geschichte zog über das Land und beflügelte die politische Phantasie.

Davon ist nichts geblieben. Enttäuschung, Unlust und geistiger Mief herrschen vor. Nur 46 Prozent der ehemaligen DDR-Bürgern glauben, daß ihre Lebensverhältnisse sich gegenüber 1989 verbessert hätten, ein Viertel meint gar, es gehe ihnen allgemein schlechter. Nur 39 Prozent zählen sich zu den Gewinnern der Einheit. Im Westen finden lediglich 40 Prozent, daß ihre Lebensverhältnisse sich seitdem verbessert haben.

In dieser Situation tut es gut, sich zu vergegenwärtigen, daß wir in einem Land leben, wo das Leiden der Autofahrer am Kälteeinbruch die innenpolitische Spitzennachricht liefert, ehe man sich Nebensächlichkeiten wie dem Elend im Gazastreifen zuwendet. Viele der beklagten Probleme hängen ursächlich auch gar nicht mit der Wiedervereinigung, sondern mit globalen Umbrüchen zusammen. Fest steht aber, daß der Wohlstand eher ab- als zunehmen wird, was für die Bundesrepublik, die ihre Identität aus ihrem überdurchschnittlichen Wohlstand abgeleitet hat - in bescheidenem Maße galt das auch für die DDR innerhalb des Ostblocks -, ein psychologisches und politisches Problem darstellt.

Was könnte die Wohlstandsregression kompensieren? Die Sonntagsfrage, ob die Ex-DDR-Bürger "im Westen" - der synonymisch für "deutsche Einheit" steht - "angekommen" seien, wird in dem Maße sinnlos, wie das westliche Modell sich selber pervertiert. Und eine Pervertierung liegt vor, wenn zwanzig Jahre nach dem glücklichsten Ereignis ihrer Geschichte die Deutschen von den eigenen Funktionseliten als "Tätervolk" in die Weltgeschichte eingeschrieben werden; wenn eine Mischung aus Hysteriebereitschaft und säuerlichem Moralismus notwendige politische Debatten ersetzt; wenn, um auf aktuelle politische Fragen überzuleiten, die frühestmögliche Trennung von Mutter und Kind von einer CDU-Ministerin zum Ideal erhoben und in die Landesverfassung von Mecklenburg-Vorpommern eine Antifa-Klausel eingefügt wird. Über den Begriff "DDR light" schmunzelt heute niemand mehr. Wie ist es dahin gekommen?

Zunächst entspricht die skizzierte Linkstendenz einer objektiven geschichtlichen Entwicklung. In der modernen Massengesellschaft, in der wir leben, entdecken die Menschen - und werden darin bestärkt -, daß sie Ansprüche besitzen. Da diese nur durch Umverteilung befriedigt werden können, befinden diejenigen sich automatisch im Vorteil, die die Umverteilung versprechen. Diese Tendenz war in der egalitären DDR übermächtig und gehörte auch in der BRD von Anfang an zur Staatsräson. Unter dem gesamtdeutschen Dach hat sie sich noch verstärkt. Um in den Genuß der Umverteilung zu kommen, ist allerdings Wohlverhalten nötig, andernfalls droht sozialer Ausschluß, so daß der politische Opportunismus ebenfalls folgerichtig ist.

Es gibt weitere, spezifische Gründe. Die Mauer war ein Gewaltakt der SED und die Objektivierung des Ost-West-Konflikts. Sie war aber auch die Materialisierung der Inbrunst, mit der beide deutsche Staaten diesen Konflikt gegeneinander austrugen. Bevor die Mauer in Berlin errichtet wurde, hatten der Ost- wie der Weststaat bereits politische und geistige Mauern zwischen sich aufgeschichtet. Beide gerierten sich als Musterschüler ihrer jeweiligen Vormächte, denen sie die höhere, geschichtsphilosophische Legitimität zubilligten.

Die konträren Geschichtsphilosophien hatten gemeinsam, daß die in einem Nationalstaat geeinten Deutschen darin ein weltgeschichtlich Böses, das ewig Faschistische darstellten. Die so inspirierten politischen Denkweisen in beiden deutschen Staaten waren natürlicherweise antifaschistisch ausgerichtet. In diesen Denksystemen konnte es nicht mehr darum gehen, einen deutschen Souverän wiederherzustellen, sondern der jeweils anderen Teilstaat sollte in den Bereich der eigenen Vormacht hinübergezogen werden.

Nachdem das 1961 endgültig fehlgeschlagen war, wurde die Teilung zunehmend als moralisch wünschbar und geboten angesehen. Beide Halbstaaten bezogen ihre "Identität aus der Abgrenzung gegen die andere Hälfte", heißt es in Peter Schneiders 1982 erschienener Erzählung "Der Mauerspringer", dem wohl besten belletristischen Werk zum Thema, das davon handelt, "daß wir scheitern werden mit dem Versuch, uns vom Wahnsinn des einen durch den Hinweis auf den Wahnsinn des anderen Staates zu heilen".

Doch genau das ist nach 1989 unternommen worden. Zwar wurden die materiellen, nicht aber die geistigen und geschichtsphilosophischen Mauern beseitigt, sondern lediglich von der Elbe an die Oder verschoben. Die Fatalität, die daran lag, das Teilbewußtsein des Weststaates zum gesamtdeutschen zu erheben, bewog Willy Brandt im Juni 1991 in der Bundestagsdebatte über die Hauptstadtentscheidung zu dem Satz: "In Frankreich wäre übrigens niemand auf den Gedanken gekommen, im relativ idyllischen Vichy zu bleiben, als fremde Gewalt der Rückkehr in die Hauptstadt an der Seine nicht mehr im Wege stand." (Was der CDU-Nachwuchspolitiker Jürgen Rüttgers mit dem Zwischenruf quittierte: "Jetzt wird es ganz schlimm!") SPD-Patriarch Brandt sah die Gefahr, daß Deutschland über den Zwei-plus-vier-Vertrag hinaus ein geistig und mental besetztes Land blieb.

Für die Richtigkeit seiner Analyse spricht unter anderem, daß Deutschland unmittelbar nach der Wiedervereinigung daranging, Denkmäler zu errichten, die seine Negativ- und das heißt: Nicht-Identität proklamierten. Für die Unlust am eigenen Land sind solche immateriellen Gründe genauso wichtig wie die, die sich aus den Sozialstatistiken ablesen lassen.

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