© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/09 02. Januar 2009

Kinderrechte
Grober Eingriff in die Restfamilie
von Klaus Hammacher

Die Sorge um das Kind steht aus vielen unterschiedlichen Gründen heute im Mittelpunkt der gesellschaftlichen Überlegungen. Es sind hier zwei Ansätze zu unterscheiden, mit denen unsere Politiker durch neue Gesetze das Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern grundlegend ändern wollen: die Eingriffe in die Familie auf der einen Seite und die Ersetzung der Familie durch staatliche Pflege- und Erziehungseinrichtungen auf der anderen Seite. Ihnen sind zwei neue Gesetze zuzuordnen: Das Gesetz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls, in Kraft getreten am 12. Juli 2008, legt das Kindeswohl als etwas durch die Familie sogar grundsätzlich Gefährdetes aus – aufgrund der in den Medien hochgespielten Einzelfälle von Mißbrauch –, so daß sich der Gesetzgeber verpflichtet sieht, dem entgegenzutreten.

Die Vorstellung, wie man das Kindeswohl dagegen in Zukunft rechtlich zu gestalten sucht, enthüllt das andere Gesetz „zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (Kinderförderungsgesetz)“, in Kraft seit dem 16. Dezember 2008. Es enthält, wie man sehen wird, weitgehend eine Aufhebung der noch verbliebenen wichtigsten Funktion der Familie: der Versorgung der Kleinstkinder.

Grundsätzlich muß man zum ersten Gesetz sagen, daß es problematisch ist, die schlimmen Fälle familiären Versagens und des Mißbrauchs der eigenen Kinder einer allgemeinen gesetzlichen Regelung zugrunde zu legen – es hat solche immer gegeben, wenn auch nicht so häufig wie heute nach dem weitgehenden Verfall der Familie. Diese Fälle sind durch die strafrechtlichen Bestimmungen aber bereits erfaßt. Das Neue an diesem Gesetz ist jedoch, daß für die Maßnahmen des Familiengerichts nicht einmal mehr die Zustimmung der Eltern zu Schutzmaßnahmen eingeholt werden muß. Durch den Bezug auf die freiwillige Gerichtsbarkeit verlagert man diese Entrechtung der Eltern in ein vollständig verwaltungsgerichtlich internes Verfahren. Das widerspricht dem Grundsatz der Unveränderlichkeit der Grundrechte, die in ihrem Wesensgehalt nach Artikel 19, Absatz 2 Grundgesetz nicht „angetastet“ werden dürfen.

Das Gesetz geht sogar so weit, daß es aus einem autokratischen Denken auf das urtümliche Gebotsrecht und Verbotsrecht zurückgreift. In Artikel 1 werden bei der Änderung BGB § 1666, Absatz 3, Gebote und Verbote aufgestellt, anstatt daß man Definitionen gesetzkonformer Verhaltensweisen angibt. Solcher Rückfall in archaisches autokratisches Staatsdenken läßt sich ironischerweise nur noch so erklären, daß sich dem Kind gegenüber bei den sich sonst so aufgeklärt wähnenden Politikern wie selbstverständlich das autoritäre Verhaltensmuster des Gebots hier wieder durchgesetzt hat, nur jetzt gegen die Eltern gewandt – ein Verhaltensmuster, das man sonst gerade den herkömmlichen Lebensformen der Familie vorwirft. Selbst die Rechtssprache ist manchmal verräterisch.

Das Recht wird wieder autoritär, während dagegen den Eltern nicht mehr die geringste Möglichkeit einer dem Kind unmittelbar erfaßbaren autoritativen Strafmaßnahme in der Familie zugestanden wird – der Klaps auf den Popo, die Ohrfeige „sind unzulässig“ (siehe dazu BGB Paragraph 1631, Absatz 2, Satz 2).

Daß es sich bei dem Sorgerecht der Eltern oder der Fürsorge um Rechtspflichten handelt, denen aber keine ausgleichenden Rechte „auf“ etwas entsprechen, hatte bereits der Philosoph Arthur Schopenhauer in einer seiner Abhandlungen zur Ethik festgestellt.

Hier zeigt sich schon, daß einige grundsätzliche Analysen der Rechtsbegriffe notwendig sind. Das Gesetz redet von Rechtsansprüchen des Kindes und infolgedessen von Rechten des Kindes. Rechtsansprüche werden jedoch nicht nur durch Rechte auf etwas begründet. Sie gehen auch, wie hier in diesem Fall, auf den Schutz der Menschenrechte zurück und können insofern keine Rechte begründen, sondern nur Rechtspflichten gesetzlich festlegen.

Daß es sich bei dem Sorgerecht der Eltern oder der Fürsorge um Rechtspflichten handelt, denen aber keine ausgleichenden Rechte auf etwas entsprechen, hatte bereits der Philosoph Arthur Schopenhauer in einer seiner Abhandlungen zur Ethik festgestellt. Also darf auch der Staat, der diese Rechtspflichten notgedrungen übernimmt, keine Rechte daraus ableiten.

Der erste falsche Schritt der Gesetzgebung bestand darin, dennoch die Rechtsansprüche in Rechte zu verwandeln. Das geschah bereits in den letzten vorhergehenden familienrechtlichen Änderungsgesetzen. Diese Rechte, welche die Kinder selbst natürlich nicht wahrnehmen konnten, unterstellte man dem Sorgerecht der Eltern.

Statt der stellvertretenden Wahrnehmung der Elternrechte mit ihren begrenzten Schutzverpflichtungen legt man nun in den neuen Gesetzen dem Handeln des Staats einen hier nicht anwendbaren Rechtsbegriff zugrunde, der mit dem Begriff der „Förderung des Kindeswohls“ verbrämt wird und eine totale Verfügung des Staats über den Menschen fast von der Geburt an mit sich bringen soll.

Damit kommen wir zu dem zweiten, dem „Kinderförderungsgesetz“, das das „Kindeswohl“ positiv zu bestimmen versucht. Entscheidend ist, daß die Fürsorgebestimmungen in diesem neuen Sinne jetzt insbesondere bereits für das erste und zweite Lebensjahr in Anspruch genommen werden. Es ist unbegreiflich, wie man einem solchen ideologisch fehlgeleiteten Denken verfallen konnte. Die Erinnerung an das DDR-Recht gibt vielleicht den Schlüssel dazu. (Immerhin berief man sich ja in den Erläuterungen des Entwurfs auf die „fortschrittlichere“ Entwicklung der Kinderfürsorge – im Klartext: mehr Kindergarten und Krippenplätze – in den neuen Bundesländern.) Rechtlich nicht vertretbar erscheint auch die Konstruktion eines „subjektiven Rechtsanspruchs“ des Kindes, genauer gesagt des Kleinstkindes, der dem DDR-Recht entnommen wurde.

Die neuen Gesetze verwandeln Schutzrechte also in Verfügungsrechte. Man versucht inhaltlich zu bestimmen, worin das Wohl des Kindes besteht, und dies sogar inhaltlich vorzuschreiben, obwohl man nur dazu berechtigt ist, die Bedingungen zu schaffen, die es in die Lage versetzen, die natürlichen Voraussetzungen für seine Persönlichkeit entwickeln zu können. Hiermit werden – wie oben bereits gesagt – Schutzrechte als inhaltliche Rechte interpretiert, was in diesem Falle jedoch zu Leerformeln führt, denn „individuelle und soziale Kompetenzen“ sind beim Kleinstkind noch nicht vorhanden.

Zur Begründung der Gesetze beruft man sich auf die „öffentliche Fürsorge“ nach Artikel 74 Grundgesetz beziehungsweise auf das „Sorgerecht“ nach dem Familienrecht des BGB. Dahinter wird jedoch eine totale gesellschaftliche Anpassung, vorrangig vor dem elterlichen Sorgerecht, als eigentliches Ziel sichtbar. Damit übernimmt der Staat aus seiner Aufsichtspflicht grundsätzlich das Sorgerecht. So etwas kann jedoch rechtlich nur gemäß den einen Mißbrauch ausschließenden Schutzgesetzen geschehen.

Mit diesem Begriff des Schutzgesetzes können wir den Bereich umschreiben, mit dem die Grundrechte die Menschenrechte in einem Staat sichern. Der im öffentlichen Recht gebrauchte „Fürsorge“-Begriff zeigt bereits an, daß es bei der Sorgeverpflichtung unseres Staates grundsätzlich nur darum geht, für angemessene Existenzsicherung – in diesem Falle seiner Angestellten und Beamten – zu sorgen. Jedoch kann schon dort aus solcher Fürsorge kein Rechtsanspruch etwa auf „Beförderung“ des Beamten abgeleitet werden. Letzteres ginge über die „Fürsorge“ hinaus. Analog lassen sich aus der Fürsorgepflicht des Staates für die Kleinstkinder keine „Bildungsziele“ ableiten. Es kann nur darum gehen, eine Schutzzone für die dem Alter entsprechende körperliche und psychische Entwicklung des Kindes zu schaffen.

In den Gesetzen drückt sich aber noch ein zweiter Denkfehler aus. Der Grundfehler des Rechtsdenkens unserer Tage wird daran deutlich. Mit Rechtsbegriffen könnte man ihn so formulieren: Gleichheit vor dem Recht impliziert keine Gleichheit an Rechten. Oder für den in Rede stehenden Zusammenhang formuliert: Rechtsansprüche schließen keine Gleichheit an Rechten ein. Man kommt in Gedanken auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz zurück, dessen rechtlich höchst fragwürdiger Charakter schon auf dem gleichen praktischen Fehlschluß beruhte (JF 8/07). Daß insbesondere aus der Gleichheit eines Rechtsschutzes keine gleichen Rechtsansprüche abgeleitet werden können, müßte eigentlich jedem einleuchten.

Der Gesetzgeber beruft sich im Kinderförderungsgesetz auf Definitionen des Sozialgesetzbuchs, die sich auf erwachsene, ausgereifte Persönlichkeiten beziehen (SGB VIII, § 1), und trägt damit Denkmodelle für einen Erwachsenen bis in die Kleinkindphase zurück, nur um politisch Konformität durchzusetzen.

Schutzrechte werden in Verfügungsrechte verwandelt. Hier von „vorschulischem Bildungsauftrag“ für die Entwicklung einer „eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ bei null- bis dreijährigen Kleinkindern zu reden, ist einfach Irrsinn.

Hier mit großen Worten wie „vorschulischer Bildungsauftrag“ für die Entwicklung einer „eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ bei null- bis dreijährigen Babies und Kleinkindern zu reden, ist einfach Irrsinn. In diesem Alter kommt es darauf an, jedem Kind über eine Bezugsperson, welche im Normalfall die Mutter ist, aufgrund der besonderen emotionalen Bindung elementare Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hatte man diese Bedürftigkeit der Kleinstkinder wiederentdeckt und begonnen, die Kinder wieder in einem Beutel vor der Brust zu tragen.

Gerade die Kleinstkindphase müßte deshalb im Normalfall den Eltern oder zumindest der Mutter durch einen längeren Mutterschaftsurlaub gesichert werden. Mit diesen Gesetzen versucht der Staat sich dagegen wieder die Möglichkeit zu einer rein öffentlichen Erziehung zu verschaffen, die nur einen totalangepaßten Einheitsmenschen hervorbringen kann. Ausdrücklich reden die „Begründungen“ dieser Gesetze auch von „Gender Mainstreaming“ und geben damit zu erkennen, daß sie auch auf ein geschlechtlich undifferenziertes Menschenbild abheben. Durch den Bezug auf diese Theorien wird nahegelegt, daß sogar in das frühkindliche Stadium eine orientierungslose Hilflosigkeit gegenüber dem Triebleben durch eine die geschlechtliche Bisexualität fördernde Erziehung getragen werden soll, die nur ichschwache Menschen hervorbringen kann. Da Kinder in diesem Alter sich noch nicht einmal ihre körperliche Ausbildung angeeignet haben, können so nur psychisch kranke Wesen entstehen.

Aldous Huxley hatte 1932 in „Brave New World“ einen einzigen Menschen geschildert, der mit einem individuell entwickelten Gewissen gegen die gezüchteten und sortierten Menschenklassen antreten kann, weil er durch einen Zufall der öffentlichen Erziehung entgangen war. Man will heute offensichtlich jedoch wieder einmal den „neuen Menschen“ schaffen, wie man es im letzten Jahrhundert verschiedene Male versucht hat, diesmal nicht durch Umsturz der arbeitsteilig gegliederten Gesellschaftsordnung oder Züchtung einer starken Rasse oder schließlich durch Genmanipulation, sondern durch eine Geschlechtergleichschaltung, die Auswuchs eines verblendeten Feminismus ist.

Verdächtig ist auch, daß man die konkreten Regelungen über das Sozialgesetzbuch einführen will. Das Kinderförderungsgesetz versucht im Grunde diese über eine notwendige Regelung der wirtschaftlichen Zwänge rechtlich unangreifbar zu machen. Aber auch die politischen Gruppen, die für eine analoge finanzielle Förderung der häuslichen Versorgung der Kleinstkinder eintreten, halten an einer bloß wirtschaftlichen Argumentation fest. Dagegen müßte eine Rechtsgrundlage der Familie ins Feld geführt werden und auf den grundgesetzlichen Schutz ihrer Erhaltung aufbauen. Dazu hat anscheinend keiner unserer heutigen Politiker mehr den Mut.

 

Prof. Dr. Klaus Hammacher lehrte Philosophie an der Technischen Hochschule Aachen. Zu seinen Arbeitsgebieten gehört neben dem Deutschen Idealismus auch die Rechtsphilosophie. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über die „Kalte Entmachtung des Souveräns“ (JF 49/07).

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