© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/08-01/09 19./26. Dezember 2008

Krieg gegen das eigene Volk
Orlando Figes' Monumentalwerk über den Totalitarismus im stalinistischen Rußland
Michael Wiesberg

Orlando Figes, Spezialist für neuere russische Geschichte am Birkbeck College der Universität London, hat erstmals 1996 eine größere Öffentlichkeit auf sich aufmerksam gemacht, als er sein monumentales Opus "Die Tragödie eines Volkes: Die russische Revolution 1891-1924" (deutsch 1998) veröffentlichte, inzwischen ein preisgekröntes Standardwerk. Nicht anders als monumental kann auch sein neuestes Werk "Die Flüsterer. Leben in Stalins Rußland" genannt werden, das seit kurzem in deutscher Sprache erhältlich ist.

Figes' Buch ist aus vielerlei Gründen bemerkenswert: Er ist der erste Historiker, der Hunderte von russischen Familienarchiven systematisch gesichtet und ausgewertet hat, Tausende Interviews mit Überlebenden des Stalinschen Terrors geführt und teilweise auch auf seinen Internetseiten dokumentiert hat (www.orlandofiges.com). Das ist allemal eine staunenswerte Leistung, die nicht hoch genug veranschlagt werden kann, gibt Figes doch den ungezählten Opfern des Stalinismus ein Gesicht. Figes hat mit diesem Buch die Methode der "oral history", also die systematische Befragung von Zeitzeugen quer durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch, in bestem Sinne angewendet. Auf vielen Hunderten von Seiten wird nachvollziehbar, wie sich ein Terrorsystem ausgewirkt hat, das in einen erbarmungslosen Krieg gegen das eigene Volk entartete.

Der erste Schritt in diese Richtung war der (zum Teil gelungene) Versuch, die tradierten Formen des Familienlebens zu zerschlagen. Die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Leben sollte fallen, da sie, wie zum Beispiel Lenins Ehefrau Nadesh­da Krupskaja behauptete, "früher oder später zum Verrat am Kommunismus führen" werde. Figes resümiert: "Die Familie bildete den ersten Schauplatz, auf dem die Bolschewiki ihren Kampf einleiteten." Die Familie galt ihnen als "konservativ", als "Bollwerk von Religion, Aberglauben, Ignoranz und Vorurteil". Die "patriarchalische Ehe" sollte durch "freie Liebesbündnisse" überwunden werden, diese wiederum als Zeichen "sowjetischer Modernität" gelten. Sowjetische Architekten regten "Kommunehäuser" an, in denen jegliche Privatsphäre getilgt werden sollte. Die Bewohner sollten auf jeglichen Besitz verzichten, "die Kleidung und Unterwäsche teilen" und in großen Schlafsälen schlafen. Für "sexuelle Kontakte" sollte es "separate Zimmer" geben: Positionen, die auch heute noch vertraut klingen, wurden sie doch zum Teil durch die "68er" und ihre Adepten wieder reanimiert.

In der Logik dieses Denkens liegt es, daß die Bolschewiki das Erziehungswesen zum entscheidenden Instrument bei der Herstellung des "neuen Menschen" machen wollten. "Der Mensch muß als 'Wir' denken", urteilte 1918 der Volkskommissar für Erziehungswesen, Anatoli Lunatscharski. "Alle persönlichen Interessen müssen in den Hintergrund treten." Figes bringt diese Bestrebungen, die den "Großen Terror" unter Stalin vorbereiten, mit der Bezeichnung "soziale Konditionierung der Persönlichkeit" zutreffend auf den Punkt. Vor diesem Hintergrund kommt der Krieg der Bolschewiki gegen die "Großbauern" nicht von ungefähr, standen sie doch für das "Rußland der Vergangenheit".

Hebel war eine angebliche "Kulakenklasse" ("kapitalistische" Großbauern), deren Vernichtung zu einer wirtschaftlichen Katastrophe für die Sowjetunion wurde. Figes führt an vielen individuellen Schicksalen vor, was es bedeutete, in Lager oder Sondersiedlungen deportiert zu werden (sofern man nicht gleich erschossen wurde) bzw. Kind oder Ehefrau eines "Volksfeindes" zu sein, Zwangsarbeit (zum Beispiel am Weißmeerkanal) verrichten zu müssen oder einem flächendeckenden Spitzelsystem ausgesetzt zu sein, das jede offene Kommunikation unmöglich machte.

Auch in den eigenen vier Wänden, falls noch vorhanden, blieb nur die Möglichkeit zu flüstern. Die Phase der Kollektivierung sollte allerdings nur das Vorspiel des "Großen Terrors" abgeben, der ab etwa Mitte der 1930er Jahre von Stalin initiiert wurde. Es ist jene Phase, in der quasi jeder Sowjetbürger damit rechnen mußte, nachts von der Geheimpolizei NKWD aus den Betten geholt, gefoltert, geschlagen oder getötet zu werden oder spurlos zu verschwinden, nicht selten in Massengräbern. Was dies für die Angehörigen bedeutete, die über das Schicksal naher Verwandter, Väter oder Mütter zum Teil jahrzehntelang in Ungewißheit blieben, und gleichzeitig als Angehörige von "Volksfeinden" stigmatisiert waren, arbeitet Figes sehr anschaulich heraus. Dieser Terror wurde im übrigen durch den deutschen Angriff auf die Sowjetunion nur unterbrochen, ging nach dem 8. Mai 1945 aber bis zu Stalins Tod weiter, wenn auch nicht mehr in so großem Umfang wie in den 1930er Jahren.

Figes spiegelt aber nicht nur die Perspektive der Opfer des stalinistischen Terrors und deren seelische Verkrüppelungen, sondern zeichnet auch die Lebenswege der Systemprofiteure nach. So zum Beispiel den des Schriftstellers Konstantin Simonow, von Figes als "Zentralgestalt" und - "je nach Standpunkt" - "tragischer Held" des Buches bezeichnet. Dieser "tragische Held", der alle Vorzüge der Elite des Stalinschen Systems genoß - Vorzüge, für die andere ihre Familienangehörigen zu verraten bereit waren -, muß nach dem Tod seines "Übervaters" Stalin mehr und mehr dessen verbrecherische Energie erkennen. Soweit es in seinem Einflußbereich steht, unternimmt er Versuche, Schriftstellern oder deren Angehörigen zu helfen, die Opfer Stalinscher Willkür wurden.

Andere, etwa der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes Alexander Fadejew, sind mit der Last, schuldig geworden zu sein, nicht fertiggeworden und haben ihrem Leben ein Ende gesetzt. Bemerkenswert bleibt der Wortlaut des Briefes, den Fadejew vor seinem Selbstmord dem Zentralkomitee schrieb: "Mit krimineller Billigung der Machthaber sind unsere besten Schriftsteller vernichtet oder vorzeitig in den Tod getrieben worden (...) ich scheide mit Freuden aus diesem Leben, mit einem Gefühl der Befreiung von dieser widerwärtigen Existenz." Erst 1990 sollte dieser Brief im Parteiarchiv gefunden werden.

Figes ist mit seinem Buch ein beklemmendes, beeindruckendes Panorama der Sowjetunion unter Stalin gelungen. Mit Recht urteilte der Historiker Jörg Baberowski in seiner Besprechung in der Zeit, daß Figes dem "Leiden der Flüsterer" ein "Denkmal" gesetzt habe. Daran ändert auch das eine oder andere fragwürdige Urteil über "makrohistorische" Vorgänge nichts, das Figes gelegentlich fällt.

Orlando Figes: Die Flüsterer. Leben in Stalins Rußlands. Berlin Verlag, Berlin 2008, gebunden, 1.036 Seiten, 35 Euro

Foto: Konstantin Apollonowitsch Sawizkij, "Partisanskaja Madonna" (Öl auf Leinwand, 1967): Tradierte Formen des Familienlebens zerschlagen, Trennung zwischen privatem und öffentlichem Leben beseitigen

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