© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/08-01/09 19./26. Dezember 2008

Auf das Eigene besinnen
Sinnsuche zu Weihnachten: Europa steht und fällt mit seinem christlichen Fundament
Fabian Schmidt-Ahmad

Wie zu jeder Weihnachtszeit, so werden auch dieses Jahr die Briefkästen wieder mit Spendenaufrufen überflutet. Dann buhlen Naturkatastrophen, Bürgerkriege oder schlicht ein undichtes Dach über dem örtlichen Schulorchester um unsere Aufmerksamkeit. Doch in dem ganzen Wirbel voll hungriger Kinderaugen und flehender Hände wird eine Tatsache gänzlich übersehen: Wer heute aus der Angewohnheit eines überkommenen Erbes noch zum Portemonnaie greift, aus Konvention den Weihnachtsbaum aufstellt und seine Nächsten mit Konsumgütern bedenkt, vergißt dabei leicht, daß ebendieses Erbe in weiten Teilen der Welt ausgerottet werden soll. Wie zu Neros Zeiten werden in diesem Augenblick Menschen verfolgt, ausgeplündert und ermordet - weil sie Christen sind.

"Und ihr müsset gehaßt werden von jedermann um meines Namens willen." (Mt. 10,22) Wer von der Aufklärung beseelt dachte, dies nur noch allegorisch verstehen und ansonsten Religion als Privatsache betrachten zu können, der lebt nicht in der Zeit. Fast überall auf der Welt scheint das Religiöse ins Zentrum der Gesellschaft zurückzukehren. Das Wiedererstarken des Islam ist dabei nur die spektakulärste und auf den ersten Blick dominierende Ausdrucksform. Auch der Hinduismus greift wieder zum Staat, auch der Buddhismus wächst und breitet sich aus. Karl Marx' These vom allmählichen Absterben aller Religionen scheint in der Welt gründlich widerlegt. Das "illusorische Glück" erlebt in Gestalt der russisch-orthodoxen Kirche eine ebenso machtvolle Renaissance wie im chinesischen Taoismus.

Mit einer Ausnahme: Europa mit seinen ausdifferenzierten und gründlich säkularisierten Gesellschaften blickt irritiert in die Welt. Dinge, die es längst überwunden glaubte, kehren nun mit Macht zurück. Menschen, die bereit sind, für ihre religiösen Überzeugungen zu töten? Das muß ein Irrtum sein: In Wirklichkeit haben sie nur Hunger, werden politisch mißbraucht oder arbeiten ihr Trauma der Kolonialzeit ab. So klingen die hilflosen Erklärungsmuster des Europäers, der die Welt nicht mehr versteht - und die Welt ihn genausowenig. "Beschützer der Gläubigen" - einst schmückten sich viele europäische Herrscher mit diesem Titel. Ihre beispiellose Machtentfaltung über den gesamten Globus machte das Christentum zur größten Religion der Erde.

Heute ist die Situation gänzlich anders. Die einstige Schutzmacht will nichts mehr davon wissen und schaut betreten zur Seite, wenn Menschen um Christi Namens willen verfolgt werden. So schreibt der Jesuitenpater Eberhard von Gemmingen, Deutschlandchef von Radio Vatikan: "Christsein ist gefährlich, in der islamischen, in der hinduistischen, in der chinesischen Welt" - weil Europa das Christentum aus seinem Gedächtnis ausradiert habe: "Régis Debray, französischer Denker und Alt-68er, der an der Seite Che Guevaras kämpfte, sagt es brutal: Christen sind die neuen Juden. Die Verfolgung ist längst im Gang."

Eine paradoxe Entwicklung: Europas Missionare verkündeten das Wort des Herrn in allen Weltteilen. Millionen von Menschen sind diesem Ruf gefolgt. Doch das Herz der Christenheit hat seine Botschaft inzwischen scheinbar vergessen. Es ist mit sich selbst beschäftigt, mit seinen Ängsten und Zweifeln. Und einem Unwillen gegenüber sich selbst. Europa leide "unter einem merkwürdigen Selbsthaß, den man nur als pathologisch bezeichnen kann", stellt Papst Benedikt XVI. fest. "Die multikulturelle Gesellschaft, die beständig und mit Nachdruck bestärkt und gefördert wird, ist bisweilen vor allem das Verlassen und Verleugnen dessen, was Eigen ist, eine Flucht vor dem Eigenen."

Doch woher kommt diese Entwicklung? Woher rührt dieser Wunsch, die eigene Kultur zu kriminalisieren, das überkommene Erbe in den Staub zu treten und in der Beliebigkeit aufzulösen? Woher diese Sucht Europas, die Sünden dieser Welt auf sich zu laden und sich schuldig zu fühlen für alles und jeden in der Welt - solange es nur das Fremde und nicht das Eigene ist? Der russische Philosoph Wladimir Solowjow sah die Christenheit an einem Scheideweg angelangt. Zwei gangbare Wege beschrieb er in seinen "Drei Gesprächen": auf der einen Seite, wie das Christentum in einer äußeren Hülle erstarrt, innerlich leer und zur bloßen Form wird. Sein ursprünglich positiver Inhalt wird durch "absolute Verneinung und Inhaltslosigkeit" entstellt.

Zum völligen Nichts geworden, in dem sich der Mensch nicht mehr als geistiges Wesen finden kann, so beschreibt Solowjow diese Kultur. Eine gigantische Maschinenhalle, geistlos und doch von Sehnsucht zum Geist erfüllt - es ist unsere Kultur, die hier charakterisiert wird. Europa hat in Wirklichkeit nie das Christentum aufgegeben. Die "multikulturelle Gesellschaft" - die große, unerfüllte Sehnsucht der Europäer - ist nichts anderes als die Suche nach Christi Reich auf Erden wie im Himmel. Doch dieses Reich kann nicht in dieser Welt gefunden werden. Man muß erst lernen, es im Geist zu erkennen, will man es verwirklichen. Europa hat jedoch den alten Zugang zum Geist verloren. Geblieben ist nur ein ahnendes Gefühl und die Leere seiner Tempel, in die so nur der Haß einzog.

Es muß also ein neuer Zugang gefunden werden, damit die geistige Ödnis ein Ende habe und sich neues Leben ergießt. Dies ist der andere Weg, den Solowjow beschreibt. Und dieser Weg ist nichts anderes als Christus selbst: "Das Christentum hat seinen Eigengehalt, unabhängig von allen Elementen, die es sonst noch in sich aufgenommen hat, und dieser eigene Gehalt ist einzig und allein Christus."

"Die Welt gehört zu Christus und nur in Christus ist sie, was sie ist. Sie braucht darum nichts geringeres als Christus selbst", schreibt Dietrich Bonhoeffer. Denn dann kann sich erfüllen, was mit der Geburt Christi der Menschheit als Möglichkeit gegeben wurde: "Frieden auf Erden allen Menschen, die guten Willens sind." (Lk. 2,14)

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