© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/08 05. Dezember 2008

Pro Kernenergie
Unverzichtbar
von Christian Bartsch

Strom aus Kernenergie gilt als preisgünstig, versorgungssicher und wegen geringer CO2-Emmissionen als "klimafreundlich". Die jüngsten Proteste am Atommüll-Zwischenlager Gorleben und Meldungen über radioaktiv verseuchte Salzlauge in der Schachtanlage Asse verweisen indes auf die mit der Kernenergienutzung verbundenen ungelösten Probleme. Atomkraft - seit jeher wird um ihr Für und Wider leidenschaftlich gerungen. Die Forum-Autoren dieser Woche wollen von konträren Positionen aus mit nüchternen Argumenten zur Urteilsfindung des Lesers beitragen. (JF)

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nahm das Deutsche Reich eine Fläche von 540.604 Quadratkilometern ein und wurde von knapp 49 Millionen Menschen bewohnt. Trotz der aufstrebenden Industrie war Deutschland ein Agrarland. Durch die Abtrennung der Ostgebiete nach 1945 schrumpfte die Fläche Deutschlands um etwa ein Drittel, und heute hat es rund 82 Millionen Einwohner. Aus dem Agrarland wurde ein dichtbesiedeltes Industrieland, das ausschließlich von den Ideen der Naturwissenschaftler und Ingenieure lebt. Produktion und Export von Waren bilden den Kern des Bruttosozialprodukts. Stets neue Ideen und mit deutscher Gründlichkeit gefertigte Waren sind Garanten, um auch in der Zukunft den Wohlstand der gesamten Bevölkerung zu sichern.

Bis nach dem letzten Krieg wurde elektrische Energie durch Kohle, Schweröl und Wasserkraft erzeugt. Ab 1955 konnte dann in Deutschland wieder Forschung zur friedlichen Nutzung der Kernenergie betrieben werden. Kernkraftwerke wurden dringend gebraucht. Sie erzeugen Strom ohne Rauch, der in den Ballungszentren ein schlimmes Übel war. Die Brennstoffkosten sind niedrig. Daran ändert sich auch bei schwankenden Preisen und dem Zubau neuer Kernkraftwerke künftig nichts. Nach vorsichtigen Schätzungen reichen die Reserven an Kernbrennstoff noch viele tausend Jahre. Wird die Kernfusion eines Tages kommerziell nutzbar, werden die Uranreserven nicht aufgebraucht. Kernforschung und Entwicklung wurden zu einer überragenden Herausforderung für Naturwissenschaftler und Ingenieure. Innerhalb von zwei Jahrzehnten war der Vorsprung des Auslands eingeholt. Es entstanden zunächst kommerziell nutzbare Reaktoren, zugleich wurde nach weiterführenden Reaktorlinien geforscht.

Durch Fortführung von Forschung wie Entwicklung hätte sich die Kernenergietechnik für Deutschland zu einem extrem lukrativen Exportzweig auswachsen können, wobei die hiesigen optimalen Sicherheitsforderungen Standard für die ganze Welt geworden wären.

Daraus ging zunächst der Hochtemperaturreaktor hervor, der sich als Energielieferant für die Verfahrenstechnik ideal geeignet hätte, weil er auch in kleinen Einheiten hergestellt werden konnte. Er war der Reaktortyp mit der absolut höchsten Sicherheit. Schließlich wurde der Schnelle Brüter projektiert, mit dem die Nutzung des Kernbrennstoffs um ein Vielfaches verlängert werden sollte, um die Importabhängigkeit zu drosseln und Brennstoff- wie Entsorgungskosten noch weiter zu senken.

Politische Kurzsichtigkeit beendete den Bau neuer Kernkraftwerke schon vor der Katastrophe in Tschernobyl - aber auch die Kernforschung: ein unverzeihlicher Fehler, weil damit die gesamte Forschungslandschaft Deutschlands auszutrocknen begann. Durch Fortführung von Forschung wie Entwicklung hätte sich die Kernenergietechnik für Deutschland zu einem extrem lukrativen Exportzweig auswachsen können, wobei die für Deutschland selbstverständlichen optimalen Sicherheitsforderungen Standard für die ganze Welt geworden wären. Hier muß daran erinnert werden, daß weltweit gegenwärtig 443 Kernkraftwerke in Betrieb sind, 175 in der Planung und 62 im Bau - natürlich nur außerhalb Deutschlands.

Während 1977 in Deutschland bereits 14 Kernkraftwerke Strom ins Netz speisten, waren es in Frankreich erst elf. Heute laufen in Deutschland noch 17, in Frankreich aber 59 Kernkraftwerke, die 78 Prozent des benötigten Stroms erzeugen. In Deutschland trägt die Kernenergie leider nur mit 26,3 Prozent zur Stromerzeugung bei. Zusammen mit Strom aus Braunkohle (23,9 Prozent der Stromerzeugung) bedient Strom aus Kernkraftwerken die Grundlast. Bei nüchterner Betrachtung müßten sich in Deutschland längst mindestens zwei weitere Kernkraftwerke im Bau befinden, während aus Stein- und Braunkohle zunehmend synthetische Kraftstoffe gewonnen werden könnten. Die dafür notwendigen Verfahren gibt es längst, sie wurden in Deutschland entwickelt und warten nur auf ihre Anwendung.

Doch wohin mit den gegenwärtig nicht verwertbaren radioaktiven Abfällen der Kernkraftwerke? Diese Frage wurde von den Beteiligten von Anfang an diskutiert, und es wurde nach Lagerstätten gesucht. Der am besten geeignete Ort ist offensichtlich der Salzstock im ostniedersächsischen Gorleben, der in der geologisch ruhigen Norddeutschen Tiefebene liegt. Wieder sorgte politische Kurzsichtigkeit gepaart mit ideologischer Verblendung dafür, daß die Erkundungsarbeiten nicht abgeschlossen werden konnten.

Ein Blick auf die Erzeugungskosten für elektrischen Strom zeigt: Kernenergie und Braunkohle können zu konkurrenzlos günstigen Kosten produzieren. Selbst Stromerzeugung aus Steinkohle erfordert die doppelten Kosten, lediglich Erdgas ist - noch! - geringfügig preiswerter als Steinkohle. Kernenergie, Braun- und Steinkohle sowie Erdgas liefern gegenwärtig 83,2 Prozent des in Deutschland benötigten Stromes. Die Wasserkraft trägt mit weiteren 4,4 Prozent dazu bei, Heizöl mit 2,5 Prozent. Trotz massiver Subventionen und dramatisch überhöhter Einspeisevergütungen gelang es den "regenerativen" Stromerzeugern gerade einmal, knapp zehn Prozent des benötigten Stroms zu liefern, und das bei Sonne und Wind auch noch mit extremer Unzuverlässigkeit. Es ist absolut illusorisch, darauf zu hoffen, den Strombedarf Deutschlands jemals allein mit regenerativen Energien decken zu können.

Finanzkrise und Konjunktureinbruch werden dafür sorgen, daß auch der Zubau von Wind- und Sonnenkraftwerken zum Erliegen kommt. Desto wichtiger ist die Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke - und die Wiederbelebung der Kernforschung. Ebenso ist zu hoffen, auch die Erkundung des Salzstocks in Gorleben schnellstmöglich zu einem positiven Abschluß zu bringen. Es ist ohnehin erstaunlich, daß die oberirdische Lagerung radioaktiver Abfälle offensichtlich bei den Protestierenden keinerlei Ängste auslöst und erst dann "gefährlich" werden soll, wenn man sie 800 Meter unter die Erde bringt.

Bleibt nur die Hoffnung, daß es in Deutschland in absehbarer Zeit doch wieder verantwortungsvolle Politiker gibt, die bereit sind, neue Kernkraftwerke zu errichten. Vor allem aber müssen sie die ideologischen Fesseln von Naturwissenschaft und Technik lösen, damit Deutschland wieder eine Zukunft hat.

 

Christian Bartsch, 80, Ingenieur und Wissenschaftsjournalist; nach Maschinenbaustudium in Dresden und Berlin (West) in der Motorenentwicklung und der Meß- und Regelindustrie tätig. Seit 1970 freier Journalist, schreibt für die FAZ, die VDI-Nachrichten, den PS Automobil Report und weitere Auto-Zeitschriften.

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