© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/08 05. Dezember 2008

Baumeister des Reichsprojektes
Franz Uhle-Wettlers Biographie des kaiserlichen Großadmirals Tirpitz verläßt die ausgetretenen Pfade
Stefan Scheil

Das Schicksal der kaiserlichen Flotte ist ein doppeltes Symbol, sowohl für den grandiosen Aufstieg des 1871 ausgerufenen zweiten Deutschen Reiches wie für seinen Fall. Diese Beobachtung beruht auf einer ganzen Anzahl bemerkenswerter Umstände. Anders als die weiterhin teilstaatlich gegliederten Landstreitkräfte entstand die neue Marine als ein Projekt des ganzen Reiches. Sie wurde als ein Novum der deutschen Geschichte präzedenzlos aus dem Boden gestampft. Wie das Reich selbst war sie ein umstrittenes Politikum und hatte zugleich unbestrittene Qualitäten, die auch von ihren Gegnern vielgerühmt wurden. Sie trat der traditionsreichsten und stärksten Marine der Welt in offener Schlacht entgegen und blieb unbesiegt. Schließlich konnte sie jedoch einen eigenen entscheidenden Erfolg nicht erzielen, und gerade von ihr ging 1918 der Revolutionsimpuls aus, der dem wilhelminischen Deutschland einen so plötzlichen Abschied bescherte.

Franz Uhle-Wettler hat eine Biographie von Admiral Alfred von Tirpitz vorgelegt, jenem Mann, der diese Marine geschaffen hat. Es kann gleich gesagt werden, daß ihm eine sowohl packende wie in der Sache abgewogene Darstellung gelungen ist, die sowohl das Umfeld wie das Leben des Admirals schildert. Im Mittelpunkt steht allerdings sein Lebenswerk als Offizier und Minister. Der Autor vertritt hierzu eine klare These, und er kann sie auch belegen: Der deutsche Flottenbau und die angebliche deutsche Hochrüstung trugen nicht die Verantwortung für die vor 1914 immer schlechter werdenden deutsch-britischen Beziehungen. Dies konstatierte bei Erscheinen der ersten Auflage vor zehn Jahren bereits Spiegel-Chef Rudolf Augstein. Für die neue Ausgabe hat der Autor nun weitere Literatur herangezogen, da neuere Forschungen seine Argumente stärken.

Der Hauptgrund für den deutsch-britischen Konflikt bestand im raschen demographischen und wirtschaftlichen Wachstum des Deutschen Reiches, einem klassischen Motiv der Kriegsführung, wie Uhle-Wettler mit Blick auf die Antike und den Konflikt zwischen Sparta und Athen anmerkt. Zudem entstand frühzeitig eine emotionale und kulturell motivierte Abneigung von Teilen der britischen Oberschicht gegenüber der neuentstandenen Macht in Mitteleuropa. Das Schlagwort von den deutschen "Hunnen", mit dem die britische Propaganda während der Weltkriege arbeitete, entsprang einem entsprechenden Selbstbewußtsein in der dortigen Entscheidungselite. Man empfand dort das Britische Empire am Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts als Verkörperung von Zivilisation und Fortschritt schlechthin, die deutsche Konkurrenz demgegenüber aber als barbarisch.

Diesen Barbaren gegenüber schien vieles erlaubt zu sein, auch wenn dies das Gewissen der politisch entscheidenden Personen erheblich belastete. So war beispielsweise für Admiral John Fisher ein tägliches Abendmahl vonnöten, gelegentlich auch zwei, wie Uhle-Wettler schreibt. Ähnliches wird von Edward Grey berichtet, dem Lenker der britischen Außenpolitik bis in den Krieg hinein. Einen offen erklärten Angriffskrieg gegen das Deutsche Reich gab es wohl lediglich deshalb nicht, weil gerade Grey Derartiges eines "Gentleman-Landes" für unwürdig erachtete, wie der in den entscheidenden Kreisen verkehrende H. G. Wells in seinen Erinnerungen anmerkte.

Die deutsche Flottenpolitik lieferte der britischen Politik also eher eine propagandistisch verwertbare Rechtfertigung als ein wirkliches Motiv. So wird auch verständlich, warum die Aufregung über die deutschen Stapelläufe nicht durch die einfache Beobachtung gebremst werden konnte, daß sie eine Reaktion auf die britischen waren und nicht umgekehrt. Nach Anzahl der Schiffe und Gesamttonnage blieb die britische Flotte ohnehin jederzeit weit überlegen. Aber auch nach Geschützkaliber und Größenklasse einzelner Schiffe war es immer die britische Seite, die voranschritt, und die deutsche, die mit jahrelangem Abstand folgte.

Dazu gesellte sich noch der intensive Flottenbau bei Deutschlands potentiellen Gegnern Frankreich und Rußland, der ebenfalls die Größenordnung der kaiserlichen Marine erreichte. Uhle-Wettler schildert und belegt dies mit Hilfe der frei zugänglichen internationalen Flottenhandbücher der Zeit, in die, wie er mit Recht bemerkt, heutige Autoren meistens keinen Blick hineinwerfen, ja ausweislich ihrer Literaturverzeichnisse vielleicht von deren Existenz gar nichts wissen.

Tirpitz war ein Kind seiner Zeit, und diese Zeit trug schwer an jener Entwicklung, die heute unter dem Stichwort Globalisierung bekannt ist. Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde die Welt fast restlos erschlossen und vernetzt. Die gemeinsame Antwort der Großmächte der Zeit bestand in einer förmlichen Aufteilung des Planeten in Kolonien und Einflußzonen. Freier Handel mit Rohstoffen und Produkten schien der Vergangenheit anzugehören; wer seine politische Unabhängigkeit und seinen Wohlstand bewahren wollte, mußte nach dem Urteil der Zeit weltweit präsent sein, als Kolonial- und Flottenmacht. An der Beantwortung der Frage, unter welchen Bedingungen dies kein allgemeingültiger Grundsatz sei, versucht sich die Politikwissenschaft bis heute. Tirpitz begründete den Flottenbau mit solchen weltweiten Zwängen, wie Uhle-Wettler ausführt. Dieses Motiv führt über den britisch-deutschen Gegensatz hinaus zur Frage, auf welcher Strategie die gewählte Art der Marinerüstung beruhte.

Im Rückblick ist klar erkennbar, daß die deutsche Flotte die Kolonien und den eigenen Welthandel nicht schützen konnte. Es gelang ihr auch nicht, den Handel des Gegners entscheidend zu stören, und wo dies doch zu glücken schien, verdankte man es dem U-Boot-Krieg, der in der Vorkriegszeit rüstungsmäßig kaum vorbereitet worden war. Uhle-Wettler zieht diese düstere Bilanz, vor der Tirpitz nach 1918 stand. Dies öffnet Raum für Kritik etwa an den strategischen Planungen des Deutschen Reiches, die es, wie er nachweist, fast gar nicht gab. Es fehlten bereits die Institutionen. Ein Äquivalent zur britischen Admiralität wurde nicht geschaffen, ein ständiger Reichsverteidigungsrat ebensowenig. Es fehlten der deutschen Entscheidungsfindung außerdem die vereinheitlichenden Traditionen der durchgehend anglikanischen, vielfach versippten und in zahlreichen informellen Clubs vernetzten britischen Oberschicht. Es ist nur ein Randthema Uhle-Wettlers, aber es gehört mit zu den von ihm erwähnten Zeitumständen, daß Teile der preußischen Oberschicht den südlichen und katholischen Teil des deutschen Reichs gerne wieder losgewesen wären. Deutsche Land- und Seestrategie entwickelten sich unter diesen Umständen unabhängig voneinander und nicht zu einem Gesamtbild. Auch ein außergewöhnlicher Mann wie Tirpitz blieb in vielen dieser Fragen ein Einzelkämpfer.

Einen eigenen Abschnitt widmet Uhle-Wettler einer ernstzunehmenden Alternative zur Tirpitzschen Risikoflotte, die innerhalb der Marine von Admiral Carl Galster entwickelt wurde. Seine "Kleinkriegsflotte" aus Kreuzern, Torpedobooten, U-Booten und Minenschiffen wäre dem Krieg, wie er 1914 bis 1918 tatsächlich stattfand, angemessener gewesen. Als reines Verteidigungskonzept läßt sie sich trotz der Behauptungen mancher Autoren gerade gegenüber Großbritannien aber nicht begreifen. Sie hätte damit den gleichen Raum für politische Angriffe geboten wie die Risikoflotte, und kostengünstiger wäre sie nach Uhle-Wettlers Einschätzung auch nicht gewesen.

Wenn die Lenker der britischen Außenpolitik aus grundsätzlichen Erwägungen den Krieg gegen Deutschland führen wollten, dann konnten deutsche Politik und Rüstung die Inselmonarchie schwerlich daran hindern. Sie konnten in der Tat nur das Risiko einer solchen Haltung signalisieren und den Preis andeuten, der für ein solches Unternehmen zu zahlen war und der für Großbritannien schließlich in nichts geringerem bestand als im Verlust des vergöttlichten Empire. Ob eine andere deutsche Symbolpolitik einen Ausweg geboten hätte, etwa der bewußte Verzicht auf Kolonien und Flotte, bleibt Spekulation. Sie hätte in jedem Fall aber gerade jene Gesamtkoordination der deutschen Politik erfordert, die es nicht gab. Es bleibt der Eindruck, daß Deutschland zu einem guten Teil unnötigerweise unter den Möglichkeiten blieb, die es um 1900 hatte. Tirpitz gehörte zu jenen, die das früh einsahen, ohne es entscheidend ändern zu können. Uhle-Wettlers bewegende Tirpitz-Biographie gibt dem Leser die Gelegenheit, viele Etappen dieses Weges noch einmal plastisch nachzuvollziehen.

Foto: Großadmiral Alfred von Tirpitz: Der deutsche Flottenbau lieferte der britischen Politik eher eine propagandistisch verwertbare Rechtfertigung als ein wirkliches Motiv für bilaterale Verstimmungen

Franz Uhle-Wettler: Alfred von Tirpitz in seiner Zeit. Ares Verlag, Graz 2008, gebunden, 559 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro

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