© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/08 28. November 2008

Europa schaut weg
Kulturkampf: In vielen muslimischen Ländern werden Christen immer massiver verfolgt
Fabian Schmidt-Ahmad

Wir sind eine Welt geworden! So schallt es uns entgegen, sobald wir den Fernseher einschalten oder eine Zeitung aufschlagen. Wir sind eine Welt geworden, und diese Welt ist ein Dorf. Wir müssen uns über die Unterdrückung der Tibeter empören, mit den ausgebeuteten Bauern Mexikos solidarisieren, als ob uns diese und Tausende andere Ungerechtigkeiten der Welt unmittelbar beträfen. Alles und jeder hat uns jetzt etwas anzugehen. Wer die kollektive Antipathie oder Empathie verweigert, hat sein Bewußtsein noch nicht den unaufhörlich, wenn auch selektiv auf ihn einprasselnden Reizen angepaßt.

In diesem Augenblick findet eine der größten Christenverfolgungen der Neuzeit statt. Ignoriert von der europäischen Öffentlichkeit, die hier auf ein böswillig konstruiertes Feindbild hofft, schreitet ein zunehmend radikaler Islam voran. Nicht nur mitten in Euro­pa, auch in vielen muslimischen Staaten sprießen derzeit neue Moscheen empor, Ausdruck einer zunehmenden Religiosität der Gesellschaft. Einhergehend mit dieser steigt auch der Druck auf die orientalischen christlichen Minderheiten, deren Traditionen zwar weit in vorislamische Zeiten reichen, die in einer solchen theokratisch verfaßten Gesellschaftsordnung aber praktisch rechtsunmündig werden.

Was dies bedeutet, ist derzeit im Irak zu beobachten. Seit dem Einmarsch der Amerikaner 2003 sank die Zahl der Christen um mehr als die Hälfte. "Ihr Christen, verlaßt sofort die Stadt, oder ihr werdet getötet!" So klingt es von Lautsprecherwagen, die laut dem Hilfswerk Open Doors derzeit durch das nordirakische Mossul fahren. 90 Prozent von ihnen wurden bereits vertrieben. Erschütternde Berichte sind es, die von hier in den Westen dringen (siehe Bericht auf Seite 12).

Aber auch in muslimischen Ländern mit funktionierendem Staatswesen ist die Situation bedrohlich. Ägypten verfügt zwar mit acht bis zehn Millionen koptischen Christen über eine starke christliche Minderheit. Trotzdem kann man hier keineswegs von einem friedlichen Miteinander der Kulturen sprechen. Christen befinden sich auch hier in einer bedrohlichen Lage, die jederzeit zum Flächenbrand werden kann.

Ägypten hat - wie der Irak und viele andere muslimische Staaten - zwar die Religionsfreiheit formal in seiner Verfassung von 1971 verankert, gleichzeitig aber die Scharia als Hauptgrundlage der Rechtsprechung bestätigt. Dies ermöglicht eine Vielzahl von Benachteiligungen und Ausgrenzungen von Christen im öffentlichen Leben. So sind Kopten höhere Berufe wie Rechtsanwalt oder Arzt in Spezialgebieten verschlossen, wie das katholische Hilfswerk Kirche in Not berichtet. Selbst in Dörfern, die zu 90 Prozent von Christen bewohnt werden, ist der Bürgermeister stets ein Moslem.

Dieses System der Apartheid trifft nun auf eine wachsende Radikalisierung der Gesellschaft, wie sie sich in den wachsenden Wahlerfolgen der Muslimbruderschaft zeigt. Mit entsprechenden Folgen: "Während die Diskriminierung, die die ägyptischen Christen zu Bürgern zweiter Klasse degradiert, Kontinuität aufweist, tritt gewalttätige Verfolgung nur sporadisch und unvorhersehbar auf. Jedoch hat sie im Laufe der vergangenen fünf Jahre deutlich zugenommen, eine Entwicklung, die parallel zur Islamisierung der Polizei verläuft", beschreibt Marie-Gabrielle Leblanc die Entwicklung.

Insbesondere die Entführung und Zwangsverheiratung junger Christinnen hat zugenommen. Ein Phänomen, das man auch im Irak beobachten kann. Die betroffenen Familien haben dann praktisch keine Möglichkeit, ihre Töchter zu retten oder auch nur deren Aufenthaltsort in Erfahrung zu bringen. Oftmals werden die muslimischen Entführer von der Polizei gedeckt.

Die Gesamtheit der Christenverfolgung in der islamischen Welt, die von Schikanen im Alltag über staatlich geduldete Übergriffe bis zu offenen Pogromen reicht, wird von Europa nicht ohne Grund ignoriert. Denn um muslimische Rechtfertigungsversuche durch Hinweise auf Kreuzzüge oder Kolonialzeit als irrelevant abschmettern zu können, benötigt man ein europäisches Selbstbewußtsein: ein Bewußtsein von Identität, einen Standpunkt in der Welt, von dem aus die Dinge um einen herum klar beurteilt werden können. Dazu muß man sich aber mit den eigenen kulturellen Wurzeln auseinandersetzen. Diese Wurzeln erstrecken sich auch in den Nahen Osten - und sie sind nicht beliebig. Einfacher ist es dagegen, Weltgewissen zu spielen. Man berauscht sich an dem eigenen Mitgefühl für die Unterdrückten und Entrechteten dieser Welt - solange man nur die Gewißheit hat, daß deren Kultur für die eigene in Wirklichkeit kaum eine Bedeutung hat. Man verbleibt so im Zustand angenehmer moralischer Erregung; fühlt sich ein wenig schuldig, fühlt sich dadurch seinem Nachbarn ein wenig überlegen; zahlt Geld für dieses Vergnügen und schaltet den Fernseher aus, schlägt die Zeitung zu. Und die Erdkugel dreht sich weiter, auf ihr der schlafende Kontinent Europa.

Große, wunderbare Träume hat Frau Europa: Träume von einer anderen, einer gerechten Welt; so schön, daß sie gar nicht mehr aufwachen will. Schlafblind blickt sie so in den Nahen Osten, blickt nach dem Irak, nach Syrien, auf den Libanon - und sieht doch nichts außer ihren eigenen Träumen. Sie wird nicht gewahr, daß es ihre Zukunft ist, die sie sieht, sollte sie weiter so willenlos einfach daliegen. Denn es gibt keinen Feuerkreis, der sie länger schützen wird. Niemand ist da, der sich für ihre Träume interessiert, ihr die Bürde der Selbstbehauptung abnimmt oder auch nur das eigene Erbe vor der Ausrottung bewahrt. Eine schöngeschmückte Braut ist sie so nur, jedem Harem zur Zier.

Es ist an der Zeit, daß Europa aufwacht, zu sich selbst findet. Nur demjenigen gebührt Achtung, der vor sich selbst Achtung hat. Und nur dessen Stimme wird mit Respekt in der Welt gehört werden, der nicht von bloßen Träumen redet.

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