© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/08 31. Oktober 2008

Die Angst vor dem Kulturexpansionismus
Eine Tagung der Geschichtswerkstatt Europa in Leipzig befaßte sich mit der gemeinsamen europäischen Geschichts- und Erinnerungspolitik
Yoav Sapir

Mitte Oktober fand in Leipzig eine sechstägige Fachtagung der Geschichtswerkstatt Europa mit Dutzenden Teilnehmern aus Deutschland, Osteu-ropa und Israel statt. Veranstaltet wurde die Tagung vom Institut für Welt- und Europastudien an der Universität Leipzig im Auftrag der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), welche nach weitestgehendem Abschluß der Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter in Osteuropa nun zahlreiche Förderprogramme aus ihrem Fonds finanziert.

Hierunter fällt auch die Geschichtswerkstatt Europa, wo Nachwuchshistoriker aus diesen Ländern sich zu internationalen Kleingruppen zusammenschließen und Projekte zur Aufarbeitung der Geschichte in Mittel- und Osteuropa durchführen. Die Stiftung finanziert auch Recherchen an den historischen Schauplätzen.

Auf der Tagung wurden bereits abgeschlossene Projekte vorgestellt, in denen beispielweise Museen und Denkmäler analysiert, Schulbücher verglichen oder historische Reiseführer zu verschiedenen Orten zusammengestellt wurden.

Zum siebzigsten Jahrestag des Kriegsausbruchs von 1939 steht das Förderprogramm im Zeichen der "Schichten der Erinnerung". Gemeint ist vor allem die Verwobenheit nationaler sowie persönlicher Erinnerung an Nationalsozialismus, Vertreibungen während und nach dem Krieg sowie an die Gewaltherrschaft des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa nach 1945. Teilnehmer aus Osteuropa wandten allerdings ein, hinter diesem Vorhaben stecke nichts anderes als "Kulturexpansionismus", indem der Westen sein Geschichtsverständnis auch anderenorts implantieren wolle.

Vor diesem Hintergrund widmete sich die Tagung in Leipzig, die zugleich auch das erste Internationale Forum der Geschichtswerkstatt Europa war, dem Thema "1938-1949 - Dekade der Gewalt". Neben Seminaren und Vernetzungstreffen haben Dozenten und Fachleute - zwar nicht nur, aber vor allem aus Deutschland und Osteuropa - in Vorträgen und Podiumsdiskussionen Fragen der europäischen Erinnerung aufgegriffen. Bezeichnend war dabei der Überblick des Essener Politologen Claus Leggewie, nach dessen Meinung das "Schicksal" der Nationalgeschichten ohnehin "außer Kraft" gesetzt worden sei. Die Epoche, in der kollektive Identitäten vor allem mit Geschichtskonstruktionen gestiftet wurden, sei nämlich vorbei, jetzt komme es in erster Linie auf "Zukunftsvisionen" etwa im Hinblick auf die Umwelt an.

Zwei-Plus-Vier-Vertrag ohne Reparationsdebatten

Auch Projekte wie das derzeit erscheinende deutsch-französische bzw. noch in Planung befindliche deutsch-polnische Schulbuch - beides für den normalen Geschichtsunterricht bestimmt - wurden in Leipzig als positive Beispile der Geschichtsvermittlung herausgestellt. Wie sich herausgestellt habe, zeichneten sich diese - wie eben auch jene der Geschichtswerkstatt Europa - durch "Multiperspektivität" aus.

Der in Berlin tätige Historiker Etienne François meinte sogar, daß erst bei bi- oder sogar multinationalen Projekten die Perspektive des anderen nicht mehr idealisiert vorgestellt werde, sondern in deren realer Form eine echte Auseinandersetzung erzwinge. Unklar blieb jedoch, ob es binationaler Projekte bedarf, um diesem Anspruch auf mehrseitige Darstellung historischer Vorgänge gerecht zu werden. Sollte der Historiker nicht auch alleine in der Lage sein sollten, sein eigenes Geschichtsbild zu hinterfragen und sich mit konkurrierenden Narrativen auseinanderzusetzen?

In einem der interessanteren Vorträge hat der Bochumer Historiker Constantin Goschler die Reparationspolitik der Bundesrepublik erklärt, die nicht zuletzt mit ihrer milliardenschweren Zahlung auch die Stiftung EVZ hervorgebracht hat, welche diese Tagung finanziert hat. Die von der Stiftung geleisteten Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter seien nicht nur in finanzieller, sondern vor allem auch in rechtlicher Hinsicht nur symbolische Geste, da der Bundesrepublik, so Goschler, keine Reparationspflicht obliege. Der Grund hierfür liege in dem Londoner Schuldenabkommen von 1953, in dem Reparationsforderungen gegen Deutschland bis zum Abschluß eines Friedensvertrages aufgehoben werden. Es sei folglich eine beachtliche Leistung der Kohl-Regierung gewesen, daß die Wiedervereinigung 1990 erreicht werden konnte, ohne daß die Bundesrepublik beim Zwei-Plus-Vier-Vertrag einen richtigen Friedensvertrag mit den Siegermächten schließen mußte. Die Beurteilung der freiwilligen Reparationspolitik Deutschlands werde deshalb höchstens Gegenstand künftiger Konferenzen sein.

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