© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/08 31. Oktober 2008

Pankraz,
M. Kundera und der unerträgliche Verrat

Seit Wochen tobt um den tschechisch-französischen Schriftsteller Milan Kundera ein Meinungskrieg von internationalen Ausmaßen. Von New York bis Moskau fragen sich Kolumnisten und Zeithistoriker: "Hat er nun verraten oder nicht?" Die Sache ist deshalb so heiß, weil Kundera ein sehr guter, weltbekannter Autor ist und bisher auch als ein in jeder Hinsicht untadeliger Ehrenmann galt. Nicht weniger als seine gesamte bürgerliche Reputation steht auf dem Spiel.

Es geht um einen Vorgang aus dem Jahre 1950, den jüngst ein fleißiger Prager Archivar ans Licht gehoben hat. Demnach hat Kundera, damals Jungkommunist und Mitbewohner eines staatlichen Studentenheims, einen zweiundzwanzigjährigen antikommunistischen Emigranten und Widerständler, der "illegal" nach Prag zurückgekehrt und bei einer Ex-Freundin untergeschlüpft war, die auch in dem Heim wohnte, bei der Polizei angezeigt. Der Angezeigte wurde daraufhin verhaftet, in einem Geheimprozeß zum Tode verurteilt und später zu 22 Jahren Lagerhaft begnadigt, von denen er volle vierzehn Jahre im Uranbergbau verbüßte.

Eine wahrhaft finstere Geschichte. Die Dokumentenlage ist an sich klar. In dem Polizeibericht steht unverrückbar: "Es erschien auf der Wache der Student Milan Kundera, geboren am 1. April 1929, und meldete, daß ein illegaler Flüchtling bei der Studentin Iva Militka einen Koffer untergestellt habe." Kundera aber erinnert sich an nichts und vermutet eine heimtückische Intrige gegen sich. Bei einigen Kolumnisten ist die Rede davon, daß ein Kommilitone von Kundera und Militka namens Miroslav Dlask die Anzeige gemacht und dabei hinterhältigerweise den Namen Kunderas benutzt haben könnte.

Ganz offenbar waren alle Beteiligten, Kundera, Dlask, das Denunziationsopfer Miroslav Dvoracek und noch einige andere, in das schöne Fräulein Militka verliebt (Dlask bekam sie später zur Frau). Dvoracek, zunächst Ivas Top-Favorit, ging in den Westen und war zunächst aus dem Rennen. Doch eines Tages war er, nun "Westagent" und "illegal", plötzlich wieder da und schlüpfte bei Iva in dem Studentenheim unter. Kundera wußte davon, Dlask wußte davon, vielleicht sogar noch weitere Genossen. Da war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der Dvoracek denunziert werden würde.

Alle übrigen waren ja mehr oder weniger von der "Sache" (also vom Kommunismus, der sich soeben an die Macht geputscht hatte) überzeugt, und sie wußten auch, daß sie Dvoracek anzeigen "mußten", um sich nicht selber strafbar zu machen. Außerdem lockten die Pluspunkte, die man bei der Partei durch eine Anzeige sammeln konnte. Der arme Dvoracek! Er hatte geglaubt, bei der Geliebten von einst und bei den alten Kumpanen im Heim sicheren Aufenthalt für einige Tage zu finden. Aber das Heim war längst nicht mehr sicher. Es hatte sich in einen Krokodilsumpf verwandelt.

Vaclav Havel, der Dramatiker und tschechische Ex-Präsident, der in der Kommunistenzeit nie mit der Partei turtelte, hat inzwischen in die Affäre eingegriffen und zur Gelassenheit ermahnt. Die nachgeborenen Junghistoriker und Archivhengste sollten genau die einstigen Zeitumstände bedenken, bevor sie individuelle Schuldsprüche von sich gäben. Und "der liebe Milan" (Kundera) sollte sich eventuelle uralte Jugendtorheiten nicht allzusehr zu Herzen nehmen; wichtig sei sein literarisches Werk, und das sei über jeden Zweifel erhaben.

Pankraz ist, bei allem Respekt, mit solchen Worten nicht ganz einverstanden. Der Fall erscheint ihm geradezu als Paradigma für Verrat im Zeichen jugendlicher Leidenschaft und Glaubenstreue. Denn es stimmt ja: Kundera oder Dlask oder beide haben bei der Anzeige völlig in Übereinstimmung mit ihren innersten Überzeugungen gehandelt, und sie haben sich dabei strikt an das vom Regime erlassene Gesetz gehalten. Ex-Kumpel Dvoracek war zum "Klassenfeind" geworden, das Tischtuch zu ihm war zerschnitten. Aber mußte er deshalb verraten und regelrecht zur Strecke gebracht werden?

Zahllosen überzeugten Jungkommunisten ging es damals wie Kundera und Dlask. Sie hatten sich voller Begeisterung auf die neue Ordnung eingelassenen, engagierten sich selbstlos - aber noch vor den ersten theoretischen Anfechtungen kamen die praktischen. Bis dato unbekannte Genossen tauchten bei ihnen auf, legitimierten sich glaubhaft und begehrten Auskünfte über Mitmenschen, gerade über die liebsten und vertrautesten, über die Eltern, den Ehepartner, den Lehrer, den Freund oder die Freundin. Es war wie ein Eisregen in lauer Frühlingsnacht.

Der Teufel zeigte unverhofft seinen Pferdefuß, entrollte Papiere und begehrte Unterschrift, geleistet mit einer Tinte aus eigenem Blut. Verrat wurde gefordert, der - um mit Margaret Boveri zu sprechen - "typische Verrat des zwanzigsten Jahrhunderts", der darin bestand, daß man im Namen irgendeiner Doktrin, irgendeiner "Überzeugung", intimste, elementarste Lebensbeziehungen preisgab und in die Verfügungsgewalt der Doktrinäre stellte.

Wer da nicht spontan erschauerte, selbst wenn er noch unverbrüchlich an die Würde und Großartigkeit der Doktrinäre glaubte, der mußte eigentlich ein ziemlicher Seelenkrüppel sein. Es schieden sich da jedenfalls die wirklich Tapferen und Einsichtigen von den weniger Tapferen und weniger Einsichtigen, und bei vielen von denen wurde der Keim zu späterer Dissidenz und Abwendung gelegt. Sie waren keine Helden, aber sie wurden, wenn sie keine bloßen Zyniker und Opportunisten waren, zu wachsamen Skeptikern.

Pankraz vermutet sehr stark, daß auch Kundera und Dlask zu wachsamen Skeptikern wurden. Dlask kann man nicht mehr darüber befragen, er ist inzwischen verstorben. Von Kunderas Betroffenheit und Verletzung und von seiner späteren Dissidenz zeugt sein gewaltiges Werk, von dem frühen Roman "Der Scherz" bis zum berühmten Opus magnum "Die unerträglichen Leichtigkeit des Seins". Die Betonung liegt hier eindeutig auf "unerträglich".

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