© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/08 17. Oktober 2008

Die Flucht in den Überwachungsstaat
Jürgen Elsässers Furcht vor dem Terror und seiner staatlichen Abwehr
von Udo Ulfkotte

Man kann dicke Bücher lesen - und sich am Ende fragen, warum man sich durch Hunderte Seiten gequält hat. Man kann aber auch die gegenteilige Erfahrung machen, so etwa beim neuesten Buch von Jürgen Elsässer, einem investigativen klugen Kopf aus dem Linksmilieu. "Terrorziel Europa - Das gefährliche Doppelspiel der Geheimdienste" hat das Zeug, den Autor zum deutschen Michael Moore zu machen. Denn ebenso wie der amerikanische Autor von "Fahrenheit 9/11" stellt Elsässer viele unbequeme Fragen. Bei vielen Anschlagsversuchen radikaler Muslime spielten V-Leute der Geheimdienste eine fundamentale Rolle. Elsässer will wissen, warum das so ist. Mehr noch: Haben die Geheimdienste bei vielen Terroranschlägen gar ihre Hände im Spiel?

Elsässer hat zunächst akribisch die Fakten recherchiert. Das haben zuvor zwar auch schon andere gemacht, die aber haben dann einfach ihr Manuskript beendet. Kurzweilig und ohne Polemik stellt uns Elsässer Merkwürdigkeiten vor - etwa einen des Terrorismus verdächtigten Reda Seyam, der angeblich in die Bali-Anschläge verwickelt gewesen sein soll und dennoch vom BKA aus der Schußlinie genommen wird. Jeder andere Terrorverdächtige vom Schlage eines Reda Seyam wäre längst nach Guantanamo verschleppt worden. Nur der lange Zeit mit einer Deutschen verheiratete Reda Seyam konnte erst in Ulm und jetzt in Berlin frei und unbeobachtet über die Straßen spazieren. Elsässer berichtet über den angeblich streng religiösen Mohammed Atta - und seine Beziehung zu einer Stripperin. Er nimmt uns mit auf eine Reise, bei der die CIA die eigenen Mitarbeiter entführt, wenn sie zuviel über die möglichen Verstrickungen der Dienste in den Terror wissen.

Wer das Buch gelesen hat, der erfährt viele interessante Geschichten über Agents provocateurs und die immerhin möglich erscheinende Nähe der Geheimdienste zu Terrorverdächtigen. Bis dahin wäre das Sachbuch ein Buch wie jedes andere - nur eben wirklich gut recherchiert und spannend zu lesen. Das eigentliche Verdienst des Autors aber ist es, zwei auf den ersten Blick nicht miteinander zusammenhängende Stränge der jüngeren Geschichte miteinander verknüpft zu haben: Terroranschläge auf der einen Seite und die alten Netzwerkstrukturen von Gladio/stay behind. Gladio - vom lateinischen Wort "gladius" für "das Schwert" abgeleitet - war in Zeiten des Kalten Krieges eine paramilitärische Geheimorganisation, die gemeinsam von der Nato, dem amerikanischen Auslandsgeheimdienst CIA und dem britischen Auslandsgeheimdienst MI6 unterhalten wurde. Dieses streng geheime Netzwerk von verdeckten Gladio-Mitarbeitern gab es bis in die neunziger Jahre überall in Europa. Es handelte sich um eine paramilitärische Untergrundorganisation, die dann angeblich vollständig zerschlagen wurde. Bis heute sind die kompletten Strukturen von Gladio in der Öffentlichkeit unbekannt. Bekannt und nachgewiesen ist nur, daß selbst staatliche Organe Gladio in Europa bei Terroranschlägen und Morden unterstützt haben. Elsässer stellt nun die interessante Frage, ob Gladio wirklich vollständig zerschlagen worden ist und nicht vielleicht doch insgeheim weiter die alten staatlichen Strukturen zerstört.

"Gibt es neben den beiden europaweiten Netzen fundamentalistischer Fanatiker (...) noch eine übergeordnete Metastruktur staatlicher Dienste, die diese Netze direkt oder indirekt lenkt?" fragt Elsässer. Nun wird es spannend. Eine Geheimstruktur aus Militär- und Zivilpersonen, deren Ziel es ist, die politischen Strukturen mit verdeckter BraXchialgewalt zu verändern - gibt es das? Auf den ersten Blick klingt es wie eine der üblichen Verschwörungstheorien. Doch ebenso wie es auch mehr als sechs Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges durchaus Neonazis gibt, so gibt es wohl auch noch den Geist jener, die sich zu Zeiten des Kalten Krieges mit der Geheimorganisation Gladio/stay behind zusammengeschlossen hatten. Und zwischen Neonazis und Gladio gibt es eben auch Parallelen, ja Berührungspunkte.

In Genua wurden etwa im Juli 2005 zwei Neofaschisten inhaftiert, die Mitglieder von Gladio waren, eine geheime Anti-Terror-Einheit (Dipartimento Studi Strategici Anti-Terrorismo) leiteten und an der Entführung von radikalen Muslimen durch die CIA in Europa beteiligt waren. Die alten Gladio-Strukturen, so belegt Elsässer anhand vieler Beispiele, machen heute weiter. Es gibt Mitarbeiter in Diensten des BND, die einst auch bei Gladio aktiv waren - und heute zum Nukleus eines neuen Gladio-Bataillons in Deutschland geworden sind. Amerikanische Dienste haben in europäischen Partnerländern Vertrauenspersonen für diese neuen Netzwerke rekrutiert, die bereit sind, den Terror zu instrumentalisieren. Sie arbeiten hin auf drastische gesellschaftliche und politische Veränderungen - weg von der Demokratie, hin zur Demokratur. Big Brother, der Überwachungsstaat, die Vorratsdatenspeicherung, die Debatte über den Abschuß der von Terroristen gekaperten Flugzeuge, die allgegenwärtige Einschränkung bürgerlicher Freiheitsrechte - das alles ist ein schleichender Prozeß der Veränderung.

Man mag Elsässer bei seinen Schlüssen aus den recherchierten Fakten folgen oder auch nicht, nachdenkenswert sind sie allemal. Elsässer ist ein Querdenker. Er sieht Deutschland auf dem Weg in eine Notstandsdiktatur. Er sieht Falken und CDU-Putschtruppen am Werk. Und er appelliert an seine Leser, eine Opposition zu bilden - bevor es zu spät ist. Viele Politiker sehen es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an, einfache Lösungen für komplexe Probleme aufzuzeigen. Elsässer hat auf mehr als 300 Seiten wahrlich komplexe Sachverhalte aufgezeigt, für die es allerdings keine einfachen Lösungen geben wird. Elsässers Buch ist beunruhigend. Aber die Faktenlage schärft den Blick. Denn die tatsächlich erkennbare Entwicklung europäischer Staaten in einen Überwachungsmoloch, der von den Bürgern nur wegen der ständigen neuen Terrorgefahren akzeptiert wird, hat bislang keine klar erkennbare Gegenbewegung hervorgebracht. Elsässer, der heute noch eine Minderheitenmeinung vertritt, wird viele Leser sicherlich nachdenklich machen und könnte damit bei der Gründung einer neuen Bewegung gegen den ausufernden Überwachungsstaat hilfreich sein.

Jürgen Elsässer: Terrorziel Europa. Das gefährliche Doppelspiel der Geheimdienste. Residenz Verlag, Salzburg 2008, gebunden, 344 Seiten, 19,90 Euro

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