© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/08 26. September 2008

"Tagträumereien"
Die CDU strickt Legenden: Ein neues Grundsatzpapier erweist sich als geschichtspolitisches Armutszeugnis
Thorsten Hinz

Mit ihrem neuen Grundsatzpapier "Geteilt. Vereint. Gemeinsam. Perspektiven für den Osten Deutschlands" will die CDU in den neuen Ländern geschichtspolitisch in die Offensive kommen. Sie wird damit scheitern. Der voraussehbare Mißerfolg der Union muß einen keineswegs betrüben, doch die Geschichtsklitterungen, die das Papier enthält, verweisen auf die Fehldispositionen einer staatstragenden Partei und damit der deutschen Politik überhaupt.

Zur Entstehung und Entwicklung des zweiten deutschen Staates heißt es: "Die DDR wurde unter Führung des SED-Regimes auf Befehl Stalins gegründet und war eine Folge des sowjetischen Sieges im Zweiten Weltkrieg. Walter Ulbricht und seine Parteigenossen unterdrückten rücksichtslos am 17. Juni 1953 mit Hilfe sowjetischer Panzer den Freiheitswillen der Ostdeutschen und ihren Wunsch nach einem wiedervereinten Deutschland. Am 13. August 1961 zementierte der Mauerbau die Teilung Berlins und Deutschlands auf lange Zeit. Stacheldraht und Grenzregime bedeuteten nichts anderes als die Inhaftierung der eigenen Bevölkerung. Daher gehört zur Bilanz von 40 Jahren DDR-Diktatur auch die Verletzung der Menschenrechte und die Frage nach den Opfern des massiven Mißbrauchs politischer Macht."

Das stimmt aufs Wort, aber die Fakten sind unvollständig. Die falsche Stringenz des hier entworfenen Geschichtsbildes kann in den Neuen Ländern nur als Versuch geistiger Kolonisierung empfunden werden und muß abstoßen. Das nach 1989 von SED-Anhängern vielgehörte Argument: "Drüben haben die Amis und bei uns haben die Russen doch alles bestimmt!" war zum Teil der Versuch, von eigener Verantwortung abzulenken, aber eben nur zum Teil. Es trägt viel mehr als nur einen rationalen Kern in sich.

Primär war die DDR eine Frucht der deutschen Teilung. Diese war nicht allein Stalins Werk, sie begann de facto schon vor 1945, und zwar mit der Forderung der bedingungslosen Kapitulation und den Planungen zur Besetzung Deutschlands. Angesichts der unterschiedlichen Kriegsziele, der geopolitischen Konkurrenz und der konträren ideologischen Ausrichtung der Alliierten war vorgezeichnet, daß an der Grenze zwischen der Sowjetzone und den Westzonen die Trennlinie zwischen unterschiedlichen Hemisphären verlaufen würde. Das war die allgemein akzeptierte Geschäftsgrundlage, an der, nachdem das atomare Gleichgewicht hergestellt war, niemand mehr rüttelte.

US-Außenminister John Foster Dulles sagte 1959 zu Willy Brandt, bei allem Streit mit den Russen sei man sich mit ihnen in einer Frage einig: "Ein neutrales, womöglich noch bewaffnetes Deutschland, das zwischen den Fronten hin und her marschieren kann, wird es nicht geben." Da Dulles unmöglich damit rechnete, daß die Sowjetunion der DDR den Beitritt zur Nato gestatten würde, andererseits die Bundesrepublik sich niemals dem Warschauer Pakt anschließen würde, war damit gesagt, daß Deutschland durch einen Eisernen Vorhang zerschnitten blieb. Das schloß die Akzeptanz der DDR als russischen Vasallenstaat und damit das Recht der Sowjetunion ein, in ihrem Sinne an der Außengrenze des Imperiums für Stabilität zu sorgen. Die Mauer war die Konsequenz einer allgemein anerkannten weltpolitischen Konstellation und wurde außerhalb Deutschlands genauso gesehen.

Peter Fechter war ein Opfer von Jalta 1945

Willy Brandt erinnerte sich in seinen Memoiren an die ostentative Unaufgeregtheit der westlichen Verbündeten nach dem 13. August 1961: "Zwanzig Stunden vergingen, bis an der innerstädtischen Grenze die ersten Militärstreifen (der Westalliierten - Th. H.) gesichtet wurden. Vierzig Stunden vergingen, bis die Rechtsverwahrung auf den Weg zum sowjetischen Kommandanten gebracht war. Zweiundsiebzig Stunden vergingen, bis in Moskau der Protest einging; er klang nach Routine." Das genügte Moskau und Ost-Berlin als Signal, daß die provisorischen Drahtabsperrungen an der Sektorengrenze durch eine Mauer ersetzt werden konnten.

Einer der besten Kenner der Materie, der Historiker Rolf Steininger, schreibt in dem Buch "Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958-1963": "Die Sieger - alle vier -" seien sich darin "einig" gewesen, daß Deutschland auf absehbare Zeit geteilt bleiben würde. Die Briten und die Russen wollten überhaupt kein einiges Deutschland mehr. In keiner einzigen Verhandlung haben die Westmächte von der Sowjetunion die Beseitigung der Mauer gefordert. Die Existenz der DDR, die nach Lage der Dinge nur eine sozialistische Diktatur sein konnte, mithin die "Inhaftierung" ihrer Bevölkerung, war von (fast) allen gewünscht. Selbst wenn ihre Führung das gewollt hätte, besaß die DDR bis 1989/90 nicht einmal das Recht auf Selbstabschaffung.

Für geborene Kollaborateure, Fanatiker und gemeine Naturen sind solche Zeiten der Fremdherrschaft natürlich golden, aber nicht sie haben die Konstellationen, unter denen sie herrschten, hauptsächlich geschaffen, sondern sie sind durch die Konstellationen überhaupt erst mächtig geworden. Der 18jährige Peter Fechter, der 1962 auf dem Mauerstreifen eine Stunde lang schreiend verblutete, war ganz wesentlich ein Opfer von Jalta 1945. Wer das verdrängt, der gibt zu erkennen, vom internationalen Bedingungsgefüge, unter denen die beiden deutschen Teilstaaten existierten, geistig und politisch überfordert zu sein, der verkennt die Interessen und Beweggründe der Verbündeten und zugleich die eigene Lage. Der setzt den Kalten Krieg im Innern fort und ist daher nicht fähig, eigenständige nationale Positionen zu formulieren. Der verdrängt letztlich auch den Charakter des aktuellen deutschen Einheitsstaates, der ja nicht durch eine Wiedervereinigung, sondern durch den Beitritt der DDR "zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" zustande kam, das wiederum als eine politische Handlungsanleitung der Westalliierten ins Leben trat. Oder geht es genau darum?

Die zweite Legende, an der das CDU-Papier strickt, ist die von ihrer Rolle als "Garant und Motor der Wiedervereinigung". Insbesondere wird Helmut Kohl gerühmt. Unerwähnt bleibt, daß bei der Formulierung des CDU-Wahlprogramms für die Bundestagswahlen 1987 die Frage der Wiedervereinigung um ein Haar unter den Tisch gefallen wäre. Als der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann damals darauf hinwies, daß die Möglichkeit der deutschen Einheit wieder auf die Tagesordnung der internationalen Politik geriet - sogar der DDR-Botschafter in Moskau schickte Alarmmeldungen nach Ost-Berlin -, kanzelte Kohl ihn vor der Fraktion wegen "Tagträumereien" und "blühenden Unsinns" ab.

Deutsche Einheit spielte völlig untergeordnete Rolle

Man mag das noch unter diplomatischer Vorsicht verbuchen. Aber Karl Hugo Pruys, ein ehemaliger Mitarbeiter der CDU-Zentrale, legt in dem Buch "Helmut Kohl - der Mythos vom Kanzler der Einheit" überzeugend dar, daß es eine politische Strategie zur Wiederherstellung der deutschen staatlichen Einheit nicht gab und sie im Denken des gesamten politischen Personals in den 1980er Jahren eine völlig untergeordnete Rolle einnahm und auf wenig Begeisterung stieß. Die CDU bildete keine Ausnahme. Zitiert wird der deutsche Botschafter in Moskau, Andreas Meyer-Landrut, der im März 1989 nach Bonn berichtete, daß man sich "gedanklich-politisch" auf die Vereinigung einstellen sollte. "Dies ist meines Wissens aber weder geglaubt noch sind irgendwelche Konsequenzen daraus gezogen worden."

Die Einseitigkeit und Beflissenheit, mit der die CDU hier die deutsche Frage definiert, unterscheidet sich inhaltlich und formal nicht sehr von der Einseitigkeit und Beflissenheit in vergleichbaren SED-Dokumenten. Da können die Wähler in den Neuen Ländern doch gleich beim Original und in jenem geistigen Teil Deutschlands bleiben, der wieder zunehmend von der Linken dominiert wird.

Foto: Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße in Berlin-Mitte: Die Teilung begann vor 1945 mit den Planungen zur Besetzung Deutschlands

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