© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/08 19. September 2008

Zweiteilige ARD-Dokumentation: Die Sudetendeutschen und Hitler
Aufklärend und einfühlsam
Thorsten Hinz

Die Schwarzweißaufnahmen zeigen einen Mob, der auf Wehrlose einprügelt. Die Szenen sind grausam, doch es spielten sich im Frühjahr 1945 in Böhmen und Mähren noch weitaus grausamere ab. Den Deutschen wurde klargemacht, daß sie in ihrer tausendjährigen Heimat nichts mehr zu suchen hatten. Die Sprecherstimme erklärt, die Bilder hätten sich in das Gedächtnis der Deutschen eingebrannt. Nun solle auch ihre "Vorgeschichte", die "ganze Geschichte", erzählt werden. Geht es schon wieder darum, daß die Deutschen, weil sie sich willig dem Führer hingaben, Mord und Vertreibung zu Recht erlitten haben, jedenfalls günstig damit weggekommen sind?

Zum Glück ist das nicht der Fall. Dem deutsch-tschechischen Autorengespann Henning Burk und Pavel Schnabel (der 1968 nach Deutschland emigriert war) bemühen sich in ihrer zweiteiligen ARD-Dokumentation, die anläßlich des 70. Jahrestages des Münchner Abkommens entstand, um Information, Aufklärung und Einfühlung (22. und 29. September, jeweils um 21 Uhr, ARD). Und zwar um Einfühlung in beide Parteien, in Deutsche und Tschechen. Bei aller Kritik, die sich gegen den Film wegen der historisch-politischen Bewertung mancher Vorgänge vorbringen läßt, ist es der beste, objektivste Beitrag zum Thema, der seit langem im Fernsehen zu sehen war.

Dramaturgisch geschickt wird die große Politik mit dem Alltag der normalen Leute verknüpft, Zeitzeugen von unterschiedlicher nationaler, gesellschaftlicher und politischer Herkunft kommen gleichberechtigt zu Wort. Die "Vorgeschichte" setzt nicht 1933 oder 1938 ein, sondern schon im Ersten Weltkrieg, als zahlreiche Tschechen statt für die Habsburgermonarchie, zu der Böhmen und Mähren gehörten, auf seiten der Alliierten kämpften. Als Belohnung durften sie sich den neuen tschechoslowakischen Staat zurechtzimmern. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das der amerikanische Präsident Wilson proklamiert hatte, galt nicht für die Deutschen außerhalb der Reichsgrenzen. Die Sudetendeutschen sahen sich gewaltsam in einen ungeliebten Staat versetzt, in dem sie eine Minderheit bildeten und auf den guten Willen der Tschechen angewiesen waren. Den aber gab es nicht, Proteste wurden blutig niedergeschlagen. Die europäische Nachkriegsordnung war auf Betrug und Demütigung Millionen Deutscher errichtet worden.

Doch muß man sich auch in die Tschechen hineinversetzen, die sich seit Jahrhunderten zurückgesetzt und von den Habsburgern in ihrer nationalen Entwicklung gehemmt fühlten. Jan Hus oder die Hinrichtung des böhmischen Adels 1621 sind nur zwei der Stichworte dazu. Nun bildeten sie zum erstenmal die Oberschicht und konnten es den früheren Herren endlich zeigen. Eine gehässige, politisch unkluge, aber menschlich natürliche Handlungsweise. 40.000 deutsche Beamte wurden entlassen, dafür 30.000 tschechische Beamte aus dem Landesinneren in die sudetendeutschen Gebiete entsandt.

Deutsche Schulen wurden, sobald ein Schülerlimit unterschritten war, rigoros geschlossen, das tschechische Schulwesen im Gegenzug ausgebaut. Die wirtschaftliche und soziale Benachteiligung der Deutschen war enorm. Während der Weltwirtschaftskrise war die Arbeitslosigkeit unter ihnen doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt, Staatsaufträge gingen an Firmen, die als "zuverlässig" galten, also an tschechische. Unter diesen Umständen stieg Hitler zur Erlöserfigur auf. Der Verleger Herbert Fleissner, 1928 in Eger geboren, berichtet von sächsischen Verwandten, die seine Familie vor einer Euphorie warnten, nach dem Motto: "Ihr werdet noch sehen!" Aber, so Fleissner, man wollte so etwas überhaupt nicht hören. Auch das ist verständlich, denn es bleibt eine Tatsache, daß keine demokratische Reichsregierung, sondern erst der Diktator in Prag, London und Paris als Anwalt der Sudetendeutschen ernstgenommen wurde!

Ganz am Ende gibt es doch noch eine geballte Ladung Geschichtspädagogik. Der Kommentar zu den Waggons, in die sich die Vertriebenen drängen, lautet: "Die Züge rollen in den Westen, in die Freiheit. Das aber werden sie erst später wissen." Ein unwissentlicher Liebesdienst also? Richtig ist, die Züge fuhren in ein zerstörtes, besetztes Land, dessen Zukunft ungewiß war und wo niemand von den Millionen zusätzlichen Essern etwas wissen wollte. Die böse Tat der Vertreibung aber schlug 1948 mit der kommunistischen Machtübernahme auf die Tschechoslowakei zurück.

Foto: Vertreibung der Deutschen aus Marienbad (Januar 1946): Brutale Repression

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