© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/08 19. September 2008

Die Nerven liegen blank
Koalitionsspekulationen: Rot-Dunkelrot mit grünen Sprengseln
Paul Rosen

Schon kurz nach dem Rücktritt des SPD-Vorsitzenden Kurt Beck schält sich die neue Strategie der Sozialdemokraten heraus. Die Hand in Hand und offenbar mit tatkräftiger Unterstützung des früheren Bundeskanzlers Gerhard Schröder arbeitenden SPD-Spitzenkräfte Franz Müntefering als designierter Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier suchen neue Bündnis-Optionen für die Zeit nach der Wahl 2009, und zwar ohne die lauernde Linkspartei von Oskar Lafontaine. Am liebsten wäre dem SPD-Tandem eine Ampel-Koalition aus Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen. Die bayerische Landtagswahl am 28. September wird zeigen, ob der Relaunch der SPD erste Erfolge zeigt.

Nachdem Beck bei der Klausur am Schwielowsee davongejagt worden war, wird klar, daß die ganze Aktion eine Vorgeschichte hatte und von alten Kampa-Kräften aus Münteferings Vorsitzenden-Zeit gesteuert wurde. So hat unter anderem der "Medien-Tenor" in Zürich den Eindruck des interessierten TV-Zuschauers durch Untersuchungen bestätigt, daß Steinmeier vom Fernsehen regelrecht zur sozialdemokratischen Kultfigur hochgesendet wurde. Münteferings Rückkehr auf die politische Bühne nach dem Tode seiner Ehefrau wurde - diesmal mehr in den Printmedien - mit großen Heilserwartungen ausgeschmückt.

Insgesamt gelang es der SPD, den gesamten negativen Eindruck der letzten Monate - angefangen von den starken Mitgliederverlusten bis zu den Beck-Pannen - auf einen Schlag wegzuwischen und sich dem Wähler neu sortiert mit einer größeren Bandbreite - von den linksparteinahen Beschlüssen des Hamburger Parteitages bis zu den Agenda-2010-Leitfiguren Steinmeier und Müntefering - zu präsentieren. Auch wenn man mit Umfragen vorsichtig sein sollte, signalisieren die ersten Echos aus der deutschen Wählerschaft einen leichten Aufwärtstrend, der vielleicht in eine Trendumkehr münden könnte.

Schon halten sozialdemokratisch orientierte Hauptstadt-Korrespondenten SPD-Werte wie 2005 (34,2 Prozent) für möglich.

Sollten die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl am 27. September 2009 auch nur in die Nähe solcher aus heutiger Sicht utopisch anmutender Zahlen kommen, wäre bei Angela Merkel das Staunen groß: Die Kanzlerin hätte dann den bisher sicher geglaubten Sieg nicht mehr in der Tasche. Regierungsbildung wäre Verhandlungssache. Die stark gestiegene Nervosität im Kanzleramt zeigt, daß auch dort die Signale entsprechend bewertet werden. Springers Bild-Zeitung hing ihr Fähnlein sofort nach der neuen Windrichtung und schlug sich auf die Seite von Steinmeier.

Nur: Die Koalition platzen lassen und die noch nicht völlig wieder zu Kräften gekommene SPD jetzt in den Wahlkampf zu einer vorgezogenen Bundestagswahl zu jagen, wäre zwar der richtige Weg für Merkel. Aber Bundespräsident Horst Köhler, der im nächsten Jahr schließlich auch auf ein paar SPD-Abweichler gegen seine Konkurrentin Gesine Schwan hofft, will nicht zum zweiten Mal in einer Amtszeit das Parlament auflösen - nicht zuletzt, weil dies auch sichtbarer Ausdruck dafür wäre, daß die stabilen Zeiten der bundesrepublikanischen Demokratie Geschichte sind.

Die FDP beobachtet die Entwicklung mit Interesse. Parteichef Guido Westerwelle braucht dringend einen großen Erfolg: die Regierungsbeteiligung in Berlin. "Opposition ist Mist", soll Müntefering einmal gesagt haben. Das denkt Westerwelle auch - und zwar seit 1998, als die Liberalen aus der Regierung in die Opposition verschwanden, wo sie bis heute unter harten Sitzen und dem Zwang, öffentliche Verkehrsmittel statt Dienstwagen nutzen zu müssen, leiden. Zünglein an der Waage sind sie schon lange nicht mehr.

Die Grünen sind längst zu einer atom- und kohlekraftwerk- sowie gentechnikfreien FDP mutiert. Sie würden die Ampel auf Grün stellen - mit zeitweiliger gespielter Scham aber auch in ein Bündnis mit Lafontaines Linkspartei einsteigen. Der Verlust der Macht 2005 hat ein Trauma ausgelöst. "Regieren macht Spaß", hatte Schröder nach 1998 verbreiten lassen, und die Grünen haben daraus gelernt, daß der Spaß sofort endet, wenn die Oppositionszeit anfängt.

So hat eine kleine Klausur an einem brandenburgischen See die politische Großwetterlage in Deutschland auf einen Schlag verändert. Da mögen sich Merkel und Steinmeier noch so oft versprechen, es werde wie gewohnt weiterregiert, und ihr persönlich gutes Verhältnis beschwören. Tatsache ist: Die Nerven in der Großen Koalition liegen blank. Mehr als die paar noch im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Maßnahmen wie zum Beispiel die Online-Durchsuchung wird die Koalition nicht mehr hinbekommen. Jeder versucht, sich in die beste Startposition für das Super-Wahljahr 2009 zu bringen. Vom nächsten Jahr kann man getrost behaupten, daß es ein Schicksalsjahr für die Bundesrepublik werden wird.

Es wird sich entscheiden, ob die bürgerliche Kanzlerschaft Merkel nur eine Episode sein oder zur Ära wird wie seinerzeit die Regentschaft Thatcher in London. Oder sollte es in Deutschland mit Hilfe der bürgerlichen FDP zu einer Mehrheit mit linken Kräften kommen, die nur Durchlauferhitzer für eine andere Mehrheit wäre, für die Gesine Schwan schon steht: Rot-Dunkelrot mit grünen Sprengseln.

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