© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/08 29. August 2008

Sterbehilfe
Tödliche Falle der Selbstbestimmung
von Manfred Spieker

Befürworter der aktiven Sterbehilfe erklären, es gehe nur um Sterbehilfe für jene, die beharrlich, freiwillig und wohlüberlegt den Wunsch geäußert hätten, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ihnen müsse das Recht auf Euthanasie zustehen. Das entsprechende ärztliche Handeln müsse aus der Grauzone der Illegalität herausgeholt werden. Aber das Recht auf Euthanasie impliziere nicht die Verpflichtung für das Gesundheitspersonal, sich an einem Akt der Sterbehilfe zu beteiligen. Der Forderung, Sterbehilfe nur im Falle eines wohlüberlegten, beharrlichen und freiwilligen Wunsches des Patienten zu legalisieren, liegt die Vorstellung zugrunde, die Selbstbestimmung sei der Kern menschlicher Identität und ihr Verlust sei gleichbedeutend mit dem Verlust der Menschenwürde.

Diese Vorstellung entspricht nicht der conditio humana. Schon der Eintritt ins Leben unterliegt nicht der Selbstbestimmung. Auch das Ende des irdischen Lebens hat - soll es menschenwürdig sein - mit Selbstbestimmung nichts zu tun. Der Mensch will nicht durch die Hand, sondern an der Hand eines anderen sterben. Unter alten und pflegebedürftigen Menschen nimmt denn auch die Befürwortung der aktiven Sterbehilfe deutlich ab. Wenn der Mensch in der Mitte seines Lebens und im Vollbesitz seiner Kräfte steht, neigt er dazu, auch noch das Sterben seinen Autonomieansprüchen zu unterwerfen. Er möchte Planungssicherheit bis zum letzten Tag seines Sterbens. Aber Planungssicherheit bis zum Ende des Lebens ist eine Illusion. Je mehr die Kräfte schwinden und je näher der Tod kommt, desto schärfer wird der Blick dafür, daß weniger Selbstbestimmung als vielmehr Selbsthingabe das Wesen des Menschen ausmacht. Nicht das abgebrochene, sondern das zu Ende gelebte Sterben ist Ausdruck wahrer Selbstbestimmung. Im Sterben verwandelt sich die Selbstbestimmung zur Selbsthingabe.

Die Praxis der Euthanasie in den Niederlanden zeigt, daß die Vorstellung, aktive Sterbehilfe werde nur bei Vorliegen eines beharrlichen, freiwilligen und wohlüberlegten Wunsches des Patienten vorgenommen, eine Illusion ist. Dies ergab eine von der Regierung in Auftrag gegebene Untersuchung, deren Ergebnisse im Juni 2003 veröffentlicht wurden. In den Niederlanden waren 2001 3,3 Prozent der rund 140.000 Todesfälle (4.632) auf aktive Sterbehilfe zurückzuführen. In über 20 Prozent dieser Fälle (982) erfolgte die Euthanasie ohne Einwilligung des Patienten. In 25 Prozent der Fälle unterblieb die vorgeschriebene Konsultation eines zweiten unabhängigen Arztes. In etwa der Hälfte der Fälle unterblieb auch die obligatorische Meldung an die zuständige Regionale Kontrollkommission, die aus einem Juristen, einem Mediziner und einem Ethiker besteht. Sie sollte dem Arzt die Angst vor der Staatsanwaltschaft nehmen und seine Meldebereitschaft erhöhen. Die niederländischen Strafverfolgungsbehörden sind zwar nicht an das Votum der Regionalen Kontrollkommission gebunden, wenn sie den Verdacht auf eine Straftat hegen und Ermittlungen aufnehmen wollen. Aber in der Praxis gilt jeder Euthanasiefall als "erledigt", wenn die Kommission zu dem Ergebnis kommt, der Arzt habe die im Gesetz genannten Sorgfaltskriterien eingehalten.

Die Erfahrungen zeigen, daß ein Rechtsstaat in unauflösbare Widersprüche gerät, wenn er meint, die Aufhebung des Verbots der Tötung Unschuldiger gesetzlich regeln zu können. Ein Rechtsstaat zerstört damit die Bedingung seiner eigenen Existenz.

Auch eine Frist zwischen dem Verlangen nach Euthanasie und der Durchführung der Euthanasie, die Rückschlüsse auf die Ernsthaftigkeit des Euthanasieverlangens zuließe und die zum Beispiel im belgischen Euthanasiegesetz für entsprechende Wünsche psychisch kranker Patienten einen Monat beträgt, wird nicht beachtet. In 13 Prozent der Euthanasiefälle in den Niederlanden, dessen Euthanasiegesetz über solche Fristen nichts sagt, lag 2001 zwischen Verlangen und Durchführung nur ein Tag, in rund 50 Prozent nur eine Woche.

Die niederländischen Erfahrungen zeigen, daß die Euthanasie nach ihrer Legalisierung eine Eigendynamik entfaltet, die sich einer effektiven Kontrolle entzieht. Daß die Regionalen Kontrollkommissionen jemals eine Untersuchung durch die Staatsanwaltschaft eingeleitet hätten, ist nicht bekannt geworden. Selbst die wenigen Fälle, in denen die Kontrollkommissionen zu dem Urteil kommen, der Arzt habe die Sorgfaltskriterien nicht eingehalten, bedeuten nicht, daß sich die Justiz dieser Fälle annimmt. Die Kommissionen stellen allenfalls Rückfragen an den Arzt und ermahnen ihn gegebenenfalls. Ihre Funktion ist deshalb eher die Erziehung als die Kontrolle der Euthanasieärzte.

Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe reißt nicht nur eine ganze Reihe neuer Klüfte zwischen Recht und Alltag auf, sie verändert darüber hinaus auch die sozialen Beziehungen, in erster Linie die zwischen Arzt und Patient. Der schwerkranke Patient wird vom leidenden Subjekt, dem Mitleid und Solidarität der Gesellschaft zuteil werden, zum Objekt, das der Gesellschaft zur Last fällt. Nicht der Patient kann das Mitleid der Gesellschaft erwarten, sondern die Gesellschaft erwartet das Mitleid des Patienten. Der sterbende Pflegebedürftige, Alte oder Kranke hat nämlich alle Mühen, Kosten und Entbehrungen zu verantworten, die seine Angehörigen, Pfleger, Ärzte und Steuern zahlenden Mitbürger für ihn aufbringen müssen und von denen er sie schnell befreien könnte, wenn er das Verlangen nach Sterbehilfe äußert. "Er läßt andere dafür zahlen, daß er zu egoistisch und zu feige ist, den Platz zu räumen. Wer möchte unter solchen Umständen weiterleben? Aus dem Recht zur Selbsttötung wird so unvermeidlich eine Pflicht" (Robert Spaemann).

Aus der Euthanasie auf Verlangen wird eine Euthanasie ohne Verlangen. Sie wird nicht nur bei alten, pflegebedürftigen Patienten, sondern auch bei Neugeborenen und Kindern im ersten Lebensjahr praktiziert. So starben nach einer Untersuchung der Niederländischen Ärzte-Gesellschaft 1995 von 1.041 Kindern acht Prozent, also über 80 durch aktive Euthanasie. Wie sehr die Euthanasie das Vertrauen in die Ärzte belastet, zeigt die Ausbreitung der "Credo-Card" in den Niederlanden, eines Ausweises mit dem Aufdruck "Maak mij niet dood, Doktor" und dem Namen des Trägers, der dem Arzt signalisiert, daß der Inhaber auf keinen Fall euthanasiert werden will. Auch die verstärkte Nachfrage holländischer Interessenten nach Alters- und Pflegeheimplätzen in Deutschland entlang der deutsch-holländischen Grenze spiegelt das euthanasiebedingte Mißtrauen in die niederländischen Ärzte, vor dem die katholischen Bischöfe in den Niederlanden schon bei der Einbringung des Euthanasiegesetzes in das Parlament gewarnt haben.

Die Schweizerische Akademie für medizinische Wissenschaften scheute sich nicht, ihre standesrechtliche Empfehlung "Suizid unter Beihilfe eines Dritten" im Juni 2003 mit der demographischen Entwicklung und den steigenden Gesundheitskosten zu begründen. Beides führe dazu, daß ältere Menschen in Krankenhäusern und Pflegeinstitutionen nicht mehr optimal versorgt werden können. Dies lasse wie im Würzburger Fall Schardt/Roger Kusch (Juni 2008) den Wunsch entstehen, getötet zu werden. In solchen Fällen bedürfe es klarer Regeln für Ärzte, Pflegepersonal und Verwaltungen der entsprechenden Einrichtungen.

Die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe verändert somit auch das Selbstverständnis der Gesundheitsberufe. Ärzte, Schwestern und Pfleger werden von Helfern des Kranken, die dessen Subjektstatus achten, seine Genesung fördern, ihn im Sterben begleiten und im Angesicht des Todes ihre eigene Ohnmacht akzeptieren, zu Herrschern, die nicht nur die Therapie einer Krankheit wie Manager regeln, sondern auch das Sterben ihrem technischen Zugriff unterwerfen wollen. Der Sterbende wird zum Objekt, das ihrer ebenso totalen wie unberechenbaren Macht unterworfen ist.

Das ärztliche Handeln, die Praxis im aristotelischen Sinne, mutiert zur Tötungstechnik. In der Logik der Empfehlung der Schweizerischen Akademie für medizinische Wissenschaften liegen ausgebildete, diplomierte Sterbehelfer, die für ihre Dienstleistung eine Erfolgs- oder zumindest eine Qualitätsgarantie anbieten. Der Tod "made in Switzerland" könnte so ein Gütesiegel und einen Wettbewerbsvorteil auf dem Euthanasiemarkt gegenüber dem Tod "made in the Netherlands" erhalten, der, wie der erste Jahresbericht der Regionalen Kontrollkommissionen zeigt, 2002 in 26 Fällen der Beihilfe zur Selbsttötung wegen unzureichender Wirkung der tödlichen Medikamente mißlang, so daß die Patienten schließlich doch aktiv getötet wurden.

Nach den Ethischen Richtlinien für die Altersheime der Stadt Zürich haben Sterbehilfeorganisationen und deren "Freitodbegleiter" auf Weisung der Stadtverwaltung Zugang zu den städtischen Altersheimen. Was zu geschehen hat, wenn der Freitodversuch mißlingt - Notfallversorgung oder aktive Euthanasie -, wird von den Richtlinien mit Schweigen übergangen. Die niederländischen Erfahrungen zeigen, daß der Übergang von der assistierten Selbsttötung zur aktiven Sterbehilfe fließend ist.

Die Erfahrungen mit der Legalisierung der Euthanasie in den Niederlanden und in Belgien bestätigen die Vermutung, daß die Euthanasie nicht Hilfe für Schwerkranke, sondern Instrument einer unblutigen Entsorgung der Leidenden, nicht Zuwendung zum Sterbenden, sondern Verweigerung des medizinischen und pflegerischen Beistandes ist. Sie zeigen, daß sich ein Rechtsstaat in unauflösbare Widersprüche verstrickt, wenn sein Gesetzgeber meint, die Aufhebung des Verbots der Tötung Unschuldiger gesetzlich regeln zu können. Ein Rechtsstaat zerstört damit die Bedingung seiner eigenen Existenz.

In der Debatte über Patientenverfügungen wird zumindest in Deutschland zwar betont, daß solche Verfügungen mit Euthanasie nichts zu tun hätten, daß sie dem Patienten mithin nicht die Befugnis einräumten, von Ärzten oder Pflegekräften eine aktive Sterbehilfe zu verlangen. Sie sollen nur die Patientenautonomie gewährleisten, also das Recht einräumen, Festlegungen zum Schutz vor Übertherapie zu treffen, die gegebenenfalls zu einem Behandlungsabbruch führen. Dem Gesetzgeber soll die Aufgabe übertragen werden, die Verbindlichkeit, die Reichweite und die Wirksamkeitsvoraussetzungen solcher Verfügungen zu regeln.

Was ist die Alternative zur Euthanasie? Eine Wiederbelebung der ars moriendi. Sterben ist Teil des Lebens. Es gilt, die soziale Dimension des Sterbens wiederzugewinnen, lernen, von den Familienangehörigen Abschied zu nehmen und das Zeitliche zu segnen.

Aber auch die Debatte über Patientenverfügungen wird von einer Illusion getragen - der Illusion, den eigenen Sterbeprozeß steuern zu können. Dahinter steht einerseits die Angst vor dem Sterben und andererseits der Mangel an Vertrauen in eine humane ärztliche und pflegerische Fürsorge in den letzten Lebenstagen. Patientenverfügungen sollen klare Anweisungen für die ärztliche Behandlung in einer bestimmten Situation geben, in der der Patient nicht mehr entscheidungsfähig ist. Je mehr solche Patientenverfügungen verbreitet sind, desto größer ist die Gefahr einer negativen Selbstbewertung bei alten und kranken Menschen, zumal zahlreiche Patientenverfügungsformulare einen Behandlungsverzicht für schwerwiegende Krankheiten als Wahlmöglichkeit enthalten. Es entsteht ein sozialer Druck, den medizinischen, pflegerischen und finanziellen Aufwand zu vermeiden und sich dem Trend des "sozialverträglichen Frühablebens" anzuschließen.

Eine weitere tödliche Falle der Selbstbestimmung: Sie mündet in Selbstentsorgung. Die dunkle Ahnung einer solchen Falle scheint weit verbreitet zu sein, weil der Anteil derer, die eine verbindliche Patientenverfügung ihr eigen nennen, trotz vieler Werbekampagnen weder in Deutschland noch in den USA steigen will. "Viele haben einen Vordruck, wenige füllen ihn aus, kaum einer unterschreibt" (Stephan Sahm). Auch wenn 80 Prozent der Bevölkerung erklären, sie bejahen eine Patientenverfügung, so verfügen weniger als zwanzig Prozent über eine solche.

Was ist die Alternative zur Euthanasie? Eine Wiederbelebung der ars moriendi. Sterben ist Teil des Lebens. Es gilt, die soziale Dimension des Sterbens wiederzugewinnen, lernen, von den Familienangehörigen Abschied zu nehmen und das Zeitliche zu segnen. Nicht nur das Begräbnis, das Sterben selbst muß wieder ein soziales Ereignis werden. Die stationären Hospize, aber auch die ambulanten Hospizdienste sind ein Schritt in diese Richtung. Ein menschenwürdiges Sterben erfordert von den Angehörigen nicht nur "Respekt vor einer angeblich unbeeinflußten Selbstbestimmung des Sterbenden", sondern auch in belastenden Situationen "die Bereitschaft zum Dabeibleiben, zum geduldigen Ausharren und zuletzt: zum gemeinsamen Warten auf den Tod" (Eberhard Schockenhoff).

Für den Christen ist das Sterben noch mehr. Es ist das Ende des irdischen Pilgerstandes, ein "Tor zum Leben". Die Vorbereitung auf einen guten Tod und das Gebet um ihn sind Teil eines gelingenden Lebens. Dem Sterbenden beizustehen, den Kranken, auch den Todkranken zu besuchen, ist Teil der Nächstenliebe, nach der jeder beim Jüngsten Gericht gefragt wird (Mt 25, 36 und 43). Die Euthanasie ist Symptom einer Kultur des Todes.

Für den Christen ist Sterben eine Gnade, ein "Lebensabschlußgottesdienst", für den die katholische Kirche nicht nur eine eigene Liturgie, sondern auch das Sakrament der Krankensalbung, der "Letzten Ölung" anbietet. Das eigene Leben buchstäblich und wirklich zu verlieren, um es zu gewinnen, das sei, so Josef Pieper, dem Menschen zum ersten und einzigen Mal im Angesicht des Todes abverlangt. Folgt der Mensch Christus im Glauben an die Verheißung einer Auferstehung und an ein ewiges Leben, kann er auch mit Ihm sagen: "Niemand entreißt mir das Leben, sondern ich gebe es aus freiem Willen hin" (Joh 10,18). Das sich hingebende, nicht das sich selbst behauptende Ich ist das wahrhaft menschliche Ich. "Ich bin froh, seid ihr es auch!" Diese letzten Worte Johannes Pauls II. auf seinem Sterbebett Anfang April 2005 sind ein großes Vermächtnis für die Wiederbelebung der ars moriendi, für eine neue Kultur des Lebens, die dem Leiden und dem Tod nicht ausweicht.

 

Prof. Dr. Manfred Spieker unterrichtet christliche Sozialwissenschaften am Institut für katholische Theologie an der Universität Osnabrück. Der vorliegende Text ist ein gekürzter und ergänzter Auszug aus seinem Buch "Der verleugnete Rechtsstaat. Anmerkungen zur Kultur des Todes in Europa" (Schöningh, Paderborn 2005). Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über "Bürgerrechte für die Familie" (JF 05/06).

Bild: "Sterbebett einer Christin", Glasmalerei in der Gedächtniskirche zu Speyer: Die Vorbereitung auf einen guten Tod und das Gebet um ihn sind Teil eines gelingenden Lebens

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