© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/08 29. August 2008

Anderen Ländern geht es besser
Demographie: Studie untersucht Bevölkerungsrückgang in Europa / Tiefgreifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen
Ekkehard Schultz

Deutschland ist auf die Herausforderungen des demographischen Wandels in den kommenden Jahrzehnten noch ungenügend vorbereitet. Trotz einzelner Veränderungen in Familienpolitik und Rentensystem sind weitere Reformen notwendig, um unter den veränderten Voraussetzungen wirtschaftlich erfolgreich zu sein und den Anschluß an Nord- und Westeuropa nicht zu verlieren. Insbesondere die katastrophale demographische Situation in Mitteldeutschland und die starke ökonomische Differenz zwischen den alten und neuen Bundesländern werfen dabei große Probleme auf. Dies ist das Fazit der Studie "Die demographische Zukunft von Europa", die vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung erstellt wurde.

Der demographische Wandel vollzieht sich in Deutschland besonders schnell, betrifft aber gleichfalls den gesamten europäischen Raum. Nach Schätzungen, die auf der Grundlage von Datenmaterial der Vereinten Nationen vorgenommen wurden, wird sich die Einwohnerzahl in Europa bis 2050 um acht Prozent reduzieren. Im heutigen EU-Raum wird - ohne Zuwanderung und bei Beibehaltung der heutigen Kinderzahl pro Frau - die Bevölkerung in diesem Zeitraum sogar von knapp 500 auf 447 Millionen Menschen sinken. Zudem wird sich der Altersschnitt der Bevölkerung bis 2050 in Durchschnitt um zehn Jahre erhöhen. Doch in welchem Maße sind die einzelnen Staaten auf diese Veränderungen vorbereitet?

Zur Beantwortung dieser Frage untersuchte das Berlin-Institut 30 europäische Staaten und 285 Regionen nach ihrer Zukunftsfähigkeit. Bei dem Vergleich wurden 24 Indikatoren berücksichtigt. Darunter befinden sich neben klassischen demographischen Faktoren (Kinderzahl, Anteil der unter 35jährigen an der Gesamtbevölkerung), wirtschaftliche Faktoren, Parameter des Arbeitsmarktes, von Bildung und Wissenschaft sowie der allgemeine Gesundheitszustand einer Bevölkerung.

Die Ergebnisse der Studie belegen, daß eine annähernd stabile Bevölkerungsentwicklung die Grundlage für den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt einer Region darstellt. So schneiden die Länder und Regionen in der Studie am besten ab, in denen einerseits der Bedarf an Arbeitskräften zum überwiegenden Teil aus dem Inland gedeckt werden konnte, andererseits die notwendigen Zuwanderer über ein überdurchschnittlich hohes Bildungsniveau verfügen. Dies trifft auf Island, Norwegen, Schweden und die Schweiz, in etwas geringerem Maße auch auf Irland und Großbritannien zu.

Dagegen verursachen ungewöhnlich niedrige Kinderzahlen, eine deutliche Überalterung der Bevölkerung sowie eine starke Abwanderung nicht nur große gesellschaftliche, sondern auch akute wirtschaftliche Probleme. Denn die ökonomische Entwicklung rückständiger Regionen ist gegen den demographischen Trend nicht möglich, so die Autoren der Studie. Dies zeige sich vor allem in Mitteldeutschland, wo trotz hoher innerstaatlicher Transferzahlungen aus dem "Aufbau Ost" das große wirtschaftliche Gefälle zu Westdeutschland bislang nicht nur bestehen blieb, sondern sich in den vergangenen Jahren weiter vergrößert hat.

So erreicht beispielsweise Sachsen-Anhalt im internationalen Vergleich nur Platz 241 unter 285 Regionen. Aber auch kein anderes der östlichen Bundesländer hätte die Chance, die Aufnahmekriterien der EU zu erfüllen, resümieren die Autoren.

Es fehle an einer funktionierenden Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck innerhalb der Union ohne Sondermittel standhalten könnte. Dies stehe wiederum in einem engen Zusammenhang mit der Tatsache, daß die ehemalige DDR ein "demographisches Notstandsgebiet" sei. Dort sind wie in keiner anderen europäischen Region großflächig viele junge Frauen abgewandert, was langfristig zu kaum lösbaren Problemen führen wird, so die Autoren. Und diese Situation wird sich weiter verschärfen: Bis 2030 wird die Bevölkerung in Sachsen-Anhalt um weitere 27 Prozent, in der Region Chemnitz in Sachsen um 26 Prozent und in Thüringen um 20 Prozent abnehmen.

Aber auch der Westen Deutschlands spürt heute bereits die Folgen einer Politik, die der demographischen Entwicklung lange Jahre kaum Beachtung schenkte. Aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit war Bevölkerungspolitik lange verpönt. So verfiel die westdeutsche Politik der "Lebenslüge", daß ungewöhnliche niedrige Kinderzahlen nicht als gesellschaftliches Problem zu werten seien, bilanzieren die Autoren der Studie.

Wenig attraktiv für Zuwanderer

Heute gilt Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten für hochqualifizierte Zuwanderer bereits als wenig attraktiv. Der größte Teil der Zuwanderer, die nach Deutschland kommen, verfügt über ein deutlich geringeres Bildungsniveau als Einwanderer in anderen Staaten. Ausländische Hochschulabsolventen verlassen Deutschland häufig nach dem Erwerb ihres Abschlusses. Im vergangenen Jahr kehrten 165.000 Auswanderer der Bundesrepublik den Rücken. So hoch war deren Zahl seit vielen Jahrzehnten nicht mehr.

Zudem bemängeln die Autoren der Studie, daß die zweite Generation der Einwanderer in Deutschland häufig über schlechte Schul- und Bildungsabschlüsse verfügt. Dadurch hätten viele keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Zudem gebe es einen deutlichen Abstand im Niveau der Qualifikationen zwischen Einwanderern der zweiten und dritten Generation und der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund.

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung: "Die demographische Zukunft von Europa. Wie sich die Regionen verändern". Dtv, München 2008, 368 Seiten, 19,90 Euro.

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