© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/08 29. August 2008

Geschichtspolitik
Sorge der kleinen Völker
Dieter Stein

Der Konflikt um Georgien und der Kampf um die Vormacht der Weltmächte auf dem Kaukasus signalisiert den kleinen Nationen Ostmitteleuropas in aller Schärfe, wie labil ihre staatliche Unabhängigkeit ist. Kalte Realpolitik diktiert das Geschehen. Rußland beendet die Zeit der Demütigungen und demonstriert neue Stärke. Alle Völker, die im Zuge der Implosion des Sowjetreiches ihre Wiedergeburt erlebten, schauen besorgt auf den neuen Ausgriff Moskaus. Bei den Balten, Ukrainern, Polen schrillen die Alarmglocken, wenn Moskau jetzt die abtrünnigen georgischen Republiken Abchasien und Südossetien anerkennt, verfügen doch alle an Rußland grenzenden Staaten dank der jahrzehntelangen Zugehörigkeit zur Sowjetunion über große russische Minderheiten, die auf Sezession drängen könnten.

Auch im Licht dieser Sorge kann man eine jetzt veröffentlichte Erklärung lesen, die von Politikern und Intellektuellen unterzeichnet wurde und die Einführung eines europäischen antitotalitären Gedenktags für die Verbrechen von Nationalsozialismus und Kommunismus fordert. Zu den Unterstützern gehören die früheren Präsidenten von Tschechien und Litauen, Vaclav Havel und Vytautas Landsbergis, der stellvertretende Vorsitzende der Parlamentarischen Versammlung des Europäischen Rates und schwedische Reichtagsabgeordnete Göran Lindblad sowie einstige Verfolgte des Kommunismus - darunter Menschen aus dem Baltikum, Deutschland, Polen, Weißrußland und Rußland. Sie plädieren für einen Gedenktag am 23. August, dem Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts.

Der am 23. August 1939 vom deutschen Reichsaußenminister von Ribbentrop und dem sowjetischen Außenminister Molotow unterzeichnete Nichtangriffspakt regelte in einem Zusatzprotokoll die Aufteilung Osteuropas zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Der Vertrag ermöglichte Hitler den Angriff auf Polen am 1. September 1939. Am 17. September folgte die Besetzung Ostpolens durch sowjetische Truppen. Die baltischen Staaten okkupierte die Sowjetunion nach fingierten Hilferufen dortiger Kommunisten im Sommer 1940.

Die Befürworter des Gedenktags veröffentlichten eine "Erklärung über das europäische Gewissen und den Kommunismus". Darin fordern die Unterzeichner ein Institut zur Erforschung totalitärer Kräfte und ein gesamteuropäisches Museum, in dem Opfer aller totalitären Regime ihre Erinnerungen schildern. "Europa kann keine Einheit werden, wenn man nicht den Kommunismus und den Nationalsozialismus als gemeinsames Erbe erkennt und eine ehrliche Debatte über die totalitären Verbrechen gegen die Menschlichkeit im vorigen Jahrhundert führt", heißt es in der Erklärung.

Eine löbliche Forderung. Sie ignoriert jedoch, welche Macht die "antifaschistische" - und damit subkutan kommunistische - Interpretation der Geschichte hat. Der Nationalsozialismus als totalitärer Bruder des erstgeborenen Kommunismus - für die Linksintelligenzija ein Sakrileg.

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