© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/08 22. August 2008

Das deutsche Interesse
Georgien-Konflikt: Berlin muß seine eigene Rolle als ehrlicher Makler in Europa finden
Michael Paulwitz

Fünf Tage Augustkrieg in Georgien haben ausgereicht, um den Staats- und Regierungschefs der EU die Grenzen der europäischen Integration schmerzhaft klarzumachen. Selbst auf dem Kerngebiet der außen- und sicherheitspolitischen Koordination sind die Mitglieder der Union tief gespalten, wenn ein Ernstfall klare Entscheidungen statt wohlklingender Universalismen verlangt. Entsprechend dürftig, hilflos und phrasenhaft sind die EU-offiziellen Reaktionen auf den georgischen Vorstoß gegen die Separatisten in der Provinz Südossetien und die massiven russischen Gegenschläge zur Behauptung des von Moskau gehätschelten Schmugglernestes.

Wundern muß das keinen. Eu-ropa ist noch immer ein Europa der Nationen, und Nationen als Subjekte der internationalen Politik haben nun mal unterschiedliche Interessen. Um die Spannbreite der Positionen zu überbrücken, bleibt kaum mehr als die Zuflucht zu Formelkompromissen und Allgemeinplätzen. Die nationalen Standpunkte liegen offen auf dem Tisch. Staaten, die vor ihrer Annäherung oder Aufnahme in die westlichen supranationalen Zusammenschlüsse als Mitglieder von Sowjetunion oder Warschauer Pakt dem direkten Zugriff des sowjetrussischen Imperialismus unterlagen, fordern die entschiedene Stellungnahme zugunsten der von wuchtigen russischen Disziplinierungsschlägen heimgesuchten Kaukasusrepublik Georgien. Balten und Ukrainer, unterstützt von Polen und Tschechen, fürchten, sie könnten "die nächsten" sein, wenn Rußland wieder "seine Bürger" jenseits der Grenzen schützen wollte.

Sie scharen sich um die externe Supermacht USA als transkontinentalen Sicherheitsgaranten. Diese wiederum steht im großen Spiel um die Kontrolle der Rohstoff-Nachschubwege in permanentem Konflikt mit einem wiedererstarkten Rußland, das die Rohstoffwaffe nutzt, um den USA "auf Augenhöhe" entgegenzutreten und "rote Linien" zu ziehen, die es bei der Verteidigung seiner Einflußsphäre im postsowjetischen Raum unbedingt zu verteidigen gewillt ist. Beide meinen ihren jeweiligen Machtbereich, meinen Pipeline-Trassen und politische Abhängigkeiten, wenn sie von Wertegemeinschaften und Menschenrechten sprechen. Nimmst du mir Kosovo und Serbien, nehm' ich dir Georgien und Ossetien - der Schlagabtausch hatte sich lange abgezeichnet.

In diesem Klima fällt der einen wie der anderen Seite der Rückgriff auf polarisierende Zuspitzungen nach Kalter-Kriegs-Art leicht. Großbritannien als europäischer Degen der USA teilt deren martialische Rhetorik, die auch im öffentlichen Diskurs etwa bei der europäischen Randmacht Spanien Anklang findet.

Auf der anderen Seite des Spektrums steht Frankreichs Präsident Sarkozy, dem an guten Geschäftsbeziehungen zu Rußland und eigenem Ruhm im Rampenlicht der Weltpolitik gelegen ist, was ihn schon mal zu vorschnellen Vermittlungsmissionen und undurchdachten Vorstößen wie einer mit Rußland nie abgesprochenen und für Moskau kaum akzeptablen "EU-Friedens-truppe" antreibt. Selbst Italien, das im Irak-Krieg bedingungslos proamerikanisch auftrat, schlägt sich im Georgien-Konflikt massiv auf die russische Seite - schließlich stehen handfeste ökonomische Verbindungen mit dem Kreml-Reich auf dem Spiel, die teilweise noch auf Sowjetzeiten zurückgehen und im Erdölgeschäft eine vitale Dimension erreicht haben.

In diesem Spannungsfeld kann sich auch Deutschland nicht dem Druck entziehen, klar Stellung zu nehmen und seine eigenen Interessen zu definieren. Nicht nur Welt- und Supermächte wie Rußland und die USA beharren auf ihren geopolitischen Interessenräumen und formulieren ihre Monroe- oder Putin-Doktrinen, mit denen sie sich raumfremde Einmischung verbitten. Auch Mittelmächte kennen ihre Einflußsphären, in denen sie wenn schon nicht die alleinige, so doch die führende Ordnungsrolle zu spielen anstreben und dafür ihre politischen Partner in die Pflicht zu nehmen suchen.

Wo aber liegt der Interessen-Großraum der kontinentalen Mittelmacht Deutschland? In Mitteleuropa, zweifellos, im Osten und Südosten des Kontinents - in jenem Raum eben, der von der mittelalterlichen Ostsiedlung bis zur Habsburgermonarchie vom wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Einfluß des deutschen Sprachraumes geprägt worden ist. Kroatien und Bosnien-Herzegowina gehören mit Sicherheit dazu, wohl auch das Kosovo, Regionen, in denen sich Deutschland mit einigem Grund intensiv engagiert. Dagegen wird Deutschlands Sicherheit weder am Hindukusch noch am Elbrus oder am Kasbek erfolgreich zu verteidigen sein.

Die Spaltung des Kontinents setzt sich fort im Zwiespalt des deutschen Diskurses zwischen "Atlantikern" und Pro-Rußländern, die je nach Orientierung Durchgreifen oder Stillschweigen von der Bundesregierung einfordern - wohlwissend, daß sich in Leitartikeln und Feuilletons besonders leicht und folgenlos mit dem Säbel rasseln läßt. Weder die eine noch die andere Parteinahme liegt indes im deutschen Interesse und wäre im Ernstfall einer Intervention die Knochen eines einzigen gesunden Panzergrenadiers wert. In ihrem Bestreben, sowohl mit Rußland als auch mit Georgien das direkte Gespräch zu suchen und sich als "ehrlicher Makler" im Bismarckschen Sinne zu empfehlen, hat Bundeskanzlerin Angela Merkel daher den richtigen Weg eingeschlagen.

Die Sache hat freilich einen entscheidenden Makel: Ein glaubwürdiger Makler muß unabhängig sein. Deutschlands einseitige Abhängigkeit von russischen Energielieferungen widerspricht diesem Selbstbild und zwingt indirekt eben doch zur Parteinahme. Vor dem Erfolg im politischen Maklergeschäft steht daher die Selbsterkenntnis, daß Deutschland dringend eine nationale Energie- und Rohstoffstrategie braucht, die der deutschen Volkswirtschaft sichere und ausdifferenzierte Nachschubwege garantiert.

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