© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/08 08. August 2008

Sicherer als in Südafrika
China: Das Reich der Mitte ist keine Demokratie in unserem Sinne und wird es wohl niemals sein / Westliche Belehrungen unangebracht
Peter Scholl-Latour

Je näher die Olympischen Spiele in China rückten, desto nervöser wurden die deutschen Kritiker in Politik und Medien. Kaum ein Tag verging, ohne daß - unter Berufung auf Organisationen wie Human Rights Watch oder Reporter ohne Grenzen - die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit angeprangert und auf Frauenraub und Zwangsarbeit in China verwiesen wurde.

Die Deutschen jedoch sollten aufhören, der ganzen Welt Lektionen zu erteilen. Es ist ja sehr schön, für die Menschenrechte einzutreten, doch müßte man es dann überall tun. Überall - und nicht selektiv. Offenbar sucht man vornehmlich Ziele aus, die irgendwie auch strategisch bestimmt sind. Es gibt eben doch eine große Weltplanung, die seit Monaten gegenüber China stattfindet. Man denke nur an das Thema Tibet, das wochenlang die westlichen Schlagzeilen beherrschte. Machen wir uns keine Illusionen. Hier handelt es sich um gezielte Kampagnen. Sie werden zentral gesteuert und in Deutschland begierig aufgegriffen. Die Deutschen treten dabei oft sehr viel stärker aufs Pedal als zum Beispiel die Amerikaner.

Man muß immerhin zugeben, daß China aus den teilweise verheerenden Verhältnissen, die dort herrschen, kein Geheimnis macht. So habe ich zum Beispiel bei der Verleihung des Henri-Nannen-Preises 2008 miterlebt, wie ein chinesischer Fotograf, der negative, extrem erschreckende Bilder zeigte, gefragt wurde, ob er dafür in China nicht verhaftet worden sei. Seine lapidare Antwort lautete: "Nein, ich habe sie in China veröffentlicht." Die Veranstalter waren perplex. Wir sollten die Realität akzeptieren: China ist eine andere Zivilisation. China ist ein Land, das aus der tiefsten Armut, der totalen Knechtung kommt. Wollen sich die Deutschen hier wirklich als strenge Mahner aufspielen?

Ein Blick nach Kaschmir sollte genügen. Ich habe an keinem Ort der Erde eine solche militärische Konzentration gesehen wie in Kaschmir. Auf Schritt und Tritt begegnet man indischen Soldaten. Vor einiger Zeit sind dort Massengräber entdeckt worden. Aber kein Mensch regt sich bei uns darüber auf. Warum? Vielleicht weil es sich in Kaschmir um Muslime handelt und Indien als eine Art heilige Kuh verehrt wird. Trotz seines abscheulichen Kastensystems wird Indien immer wieder als größte Demokratie der Welt bezeichnet.

Doch zurück zu China. Es ist natürlich keine Demokratie in unserem Sinne und wird es wahrscheinlich niemals sein. Wir müssen uns damit abfinden, daß unser Modell der Demokratie für viele Länder der Welt keine Gültigkeit besitzt. Daß in einer Atmosphäre nervöser Kritik die deutschen Politiker schon im März festlegten, an der Eröffnungsfeier nicht teilnehmen zu wollen, zeugt nicht von diplomatischem Weitblick.

Denn mit schneller Kehrtwende haben US-Präsident George W. Bush und auch Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy angekündigt, daß sie teilnehmen werden. Nun stehen die deutschen Tugendwächter im Abseits. Die Bundesrepublik sollte auf jeden Fall mit hochrangigen Vertretern vor Ort sein. Die Olympischen Spiele in China sind ein sportliches Ereignis. Man hüte sich, alles zu politisieren.

Deutschland hat keinen Grund, eine Sonderfehde gegen China zu führen. Es gibt nämlich peinliche Erinnerungen in den deutsch-chinesischen Beziehungen, die die Chinesen uns nicht ständig auftischen. Erwähnt sei die berühmt-berüchtigte Hunnenrede von Kaiser Wilhelm II. während des Boxerkrieges (1900/01), die man heute kaum zu reproduzieren wagt. Und sein Gerede von der Gelben Gefahr, zu einem Zeitpunkt, als China wirklich am Boden lag und unter den Großmächten aufgeteilt wurde!

Die Deutschen - man will ja nicht immer an die Verbrechen der Nazis erinnern - haben wirklich keinen Anspruch, sich als Speerspitze der Menschenrechte aufzuspielen. Daß wir sie bei uns praktizieren, ist gut und unverzichtbar. Daß wir sie in Europa praktizieren, ebenso. Aber es gibt viele Länder, wie just afrikanische Beispiele zeigen, in denen schon die Einführung des Mehrparteiensystems automatisch zu Stammeskriegen führt.  Davon ist China weit entfernt. In China kann man sich - im Gegensatz zu Südafrika, wo 2010 die Fußball-WM stattfinden soll - ziemlich frei bewegen. Man gibt ein Ziel an und fährt, wohin man will. Ich habe in der Beziehung kaum Restriktionen erlebt. Sicher, es gibt ein paar militärische Sperrgebiete, aber die existieren in anderen Ländern auch. In China wird es zweifellos während der Spiele eine scharfe Überwachung geben - aber die Kontrollen an chinesischen Flughäfen werden bestimmt nicht strenger sein als die an den amerikanischen. Im übrigen besteht in Südafrika eine ganz andere Gefährdung. Dort müßten die Gäste und Sportler vor der beängstigenden Unsicherheit geschützt werden. In Johannesburg kann man nicht spazierengehen, ohne ausgeraubt, eventuell sogar umgebracht zu werden. Dieses Risiko geht man in Peking nicht ein.

Letztlich kann man die Olympischen Spiele 2008 in China aus zwei Perspektiven betrachten. Die negative ist der oft zitierte Vergleich mit dem Dritten Reich. Aber im Dritten Reich des Olympia-Jahres 1936 ging es noch relativ harmlos zu. Das Schlimmste stand ja erst bevor. In China hat man das Schlimmste hinter sich - die Kulturrevolution.

Der positive Effekt kann darauf hinauslaufen, daß der ungezwungene, intensive Umgang mit Ausländern auch zur Lockerung der internen Verhältnisse in China beiträgt. Insofern können diese Olympischen Spiele, wenn sie nicht zu Demonstrationen mißbraucht werden, durchaus einen positiven Effekt erzielen. Wenn aber gewisse Wichtigtuer, die vorher kaum wußten, wo Tibet liegt, sich auf Provokation verlegen und Tibetfahnen entfalten, dann dürfte die nationale chinesische Massenreaktion eindeutig sein. Dann käme es zu einer bitteren Verhärtung.

 

Prof. Dr. Peter Scholl-Latour berichtet als Journalist und Publizist aus aller Welt. In seinem Buch "Der Wahn vom Himmlischen Frieden. Chinas langes Erwachen" (Goldmann-Verlag 2001) kritisierte er die westliche Sicht auf China.

Foto: Wangfujing-Ladenstraße in Peking: In China hat man das Schlimmste hinter sich - die Kulturrevolution

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen