© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/08 08. August 2008

Linksschwenk ins Chaos
Von der ältesten deutschen Volkspartei zur Polit-Sekte: Die SPD zerlegt sich selbst
Michael Paulwitz

Es geht den Genossen wohl nicht schnell genug mit dem Mitgliederschwund. Das Ergebnis spielt schon keine Rolle mehr - mit dem Parteiausschlußverfahren gegen Schröders einstigen Superminister Wolfgang Clement präsentiert sich Deutschlands älteste demokratische Partei als unzurechnungsfähige Polit-Sekte ohne Kopf und Plan. Das politisch, charakterlich und intellektuell unzulängliche Personal der Generation Linksruck schmeißt bei der Ablösung der Generation Toskana die eigenen Trümpfe mit vollen Händen zum Fenster hinaus.

Da mag Parteiverweser Kurt Beck noch so oft dementieren, daß es sich um einen "Richtungsstreit" handle: Personalfragen sind Machtfragen, erst recht, wenn es um einen prominenten Ex-Minister geht. Die Abrechnung mit Wolfgang Clement ist eine Abrechnung mit den Protagonisten und Zielen der "Agenda 2010" und nicht mit dem parteischädigenden Verhalten eines Eckpfeilers der Schröder-Kabinette. Selbst wenn es so wäre, müßte die SPD sich fragen lassen, warum sie ihrem heutigen Nachtmahr Lafontaine dereinst soviel mehr an selbigem durchgehen ließ, bevor er auch als Genosse selbst "den Oskar" machte.

Das Clement-Lager liegt somit wohl nicht falsch mit der Vermutung, es gehe um eine "Säuberung" der Sozialdemokratie von Gegnern eines Zusammengehens mit der Linkspartei; die "Clement-Verfolger", meint der Chefredakteur der von Außenminister Steinmeier mitherausgegebenen Berliner Republik, wollten eine linke "Einheitspartei". Starker Tobak - eine Partei, deren Prominenz solche und ähnliche Freundlichkeiten über die Medien austauscht und untereinander bevorzugt mit Rechtsbeistand verkehrt, schrammt hart an der Grenze zum Sektierertum.

Auf den ersten Blick heißt das größte Problem der Sozialdemokraten Kurt Beck. Der Pfälzer Kater liegt am liebsten hinterm heimischen Ofen, schnurrt oder schnappt mal in diese und mal in jene Richtung und läßt im übrigen die Mäuse auf dem Tisch tanzen. Die nachgeordneten Chargen wie die NRW-Landesvorsitzende Hannelore Kraft tun es ihm gleich. In einem solchen Führungs- und Autoritätsvakuum kann dann ein Ortsverband mit seinem Ausschlußantrag die ganze Partei erschüttern, kann eine mit ideologischen Ladenhütern um sich werfende Intrigantin zur Vize-Chefin und grauen Eminenz aufsteigen, kann eine erschütternd unbegabte hessische Spitzenkandidatin, die gegen guten Rat und besseres Wissen zur Pionierin der linken Volksfront im Westen werden will, die Partei spalten. Die Führungsriege führt nicht, sie läuft den Ereignissen hinterher und angelt hie und da vergeblich nach den Zügeln.

Andrea Ypsilanti, so scheint es, ist das zweite große Problem der SPD. Statt gelassen darauf hinzuarbeiten, daß die Lage im Land nach dem Patt bei der Landtagswahl von selbst auf die strukturelle linke Mehrheit hinausläuft, rennt sie mit dem Kopf gegen die Wand und läßt sich auch von ihrem Parteivorsitzenden, der ihr zuvor den Freibrief gegeben hatte, nicht von einem zweiten Versuch abhalten. Potentielle Abweichler, die dem Beispiel der Darmstädter Abgeordneten Dagmar Metzger folgen könnten, werden schon mal prophylaktisch weichgeklopft.

Dazu paßt der Verdacht, Ypsilanti habe über ihren Frankfurter Heimatverband auch direkt mit an den Strippen gezogen beim Clement-Ausschluß. So geht Politik nach Sachbearbeiter- und Gewerkschaftssekretärsart: Statt stillzuhalten, bis die Linkspartei-Gegner mit ihrem Abgrenzungskurs die nächste Bundestagswahl verlieren, und sie dann zu beerben, wollen die Ypsilantis die Entscheidung sofort erzwingen und bieten sich dem aussichtslosen nächsten SPD-Kanzlerkandidaten als Sündenbock geradezu an.

Sucht man nach den tieferen Ursachen für die womöglich größte Krise ihrer ganzen Geschichte, die die deutsche Sozialdemokratie derzeit durchmacht, greift der Blick auf einzelne Personen indes zu kurz. Das unzulängliche Personal ist nur Symptom und Ausfluß des zerrütteten Geisteszustands einer Partei, die nicht mehr weiß, wer sie ist, was sie will und für wen sie da ist.

Die Begriffsverwirrung um die "soziale Gerechtigkeit" ist ein Schlüssel zum Verständnis der Misere. Die Sozialdemokraten haben die Deutungshoheit über diesen Kernbegriff der Linkspartei überlassen. Nach deren Lesart findet soziale Gerechtigkeit ihre Erfüllung im totalen Wohlfahrtsstaat, der den Transferempfänger zum Maßstab politischen Handelns macht, der statt Bürgern nur noch Bedürftige kennt und der den Umfang der nivellierenden Umverteilung zum eigenen Erfolgsmaßstab erklärt.

In die Welt gesetzt wurde diese fatale Interpretation von "sozialer Gerechtigkeit" in den siebziger Jahren - unter dem Kanzler und Parteivorsitzenden Willy Brandt, als der Sozialstaat zu wuchern begann. Sozialisiert mit den geborgten süßen Früchten dieser Politik, bescherten die Toskana-Deutschen der SPD eine Scheinblüte. Wolfgang Clement und sein Anwalt Otto Schily, die in dessen Ferienhaus bei Siena vom drohenden Parteiausschluß erfuhren, sind zwei von ihnen. Es überrascht nicht, daß diese ausrangierte Generation, Agenda hin oder her, der Sozialdemokratie keine neue Orientierung geben konnte. Von daher ist der Flügelkampf so fruchtlos wie erbittert.

Der verklärende Blick zurück in die Ära Brandt hilft der SPD genausowenig weiter wie das Liebäugeln mit dessen Enkel Lafontaine. Anknüpfungspunkte für ein neues sozialdemokratisches Bewußtsein sind erst jenseits von Achtundsechzig zu finden: bei der stolzen SPD der Arbeiterbewegung, die um gerechte Aufstiegschancen der hart arbeitenden Leistungsträger der Gesellschaft kämpfte und mit dem "Lumpenproletariat", das sich apathisch in ein hoffnungsloses Schicksal ergibt, nichts zu tun haben wollte.

Vergeßt Willy - das geistige Rüstzeug für den Wiederaufstieg der deutschen Sozialdemokratie findet sich, wenn überhaupt irgendwo in der Parteitradition, bei Kurt Schumacher, Friedrich Ebert und August Bebel.

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