© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/08 25. Juli / 01. August 2008

Der Krieg der Erinnerungen geht weiter
Dan Diner analysiert den Holocaust in der Konkurrenz globaler Strategien der Gedenkpolitik
Doris Neujahr

Gleich mit dem ersten Satz seines neuen Büchleins über die "Geltung und Wirkung des Holocaust" unterläuft dem deutsch-israelischen Historiker Dan Diner eine Freud­sche Fehlleistung. Der Terminus bezeichnet eine versehentliche, scheinbar rein zufällige Handlung, die in Wahrheit ein Indiz einer grundsätzlichen inneren Einstellung ist. Der Satz lautet: "Die Vernichtung der europäischen Juden war ein Geschehen des Zweiten Weltkriegs." Die Satzaussage geht über die Temporalbestimmung hinaus, denn zur Kennzeichnung der relativen Zeitbedeutung - hier: der Gleichzeitigkeit - hätte die Präposition "im" (in ihrer temporalen Bedeutung: "im Zweiten Weltkrieg") oder eine Konjunktion ("während des Zweiten Weltkrieges") genügt. Zwar kann auch der Genitiv, den Diner benutzt ("ein Geschehen des Zweiten Weltkrieges") eine Temporalangabe ausdrücken, doch hier übernimmt er zugleich eine adnominale Funktion, das heißt, er läßt ein Substantiv ("Geschehen") zu einem übergeordneten Substantiv ("Zweiter Weltkrieg") hinzutreten und setzt das eine zum anderen in eine Teil-Ganzes-Relation.

Diese Lesart bestätigt Diner selbst durch die Fehlleistung Nummer zwei: Das "zu beobachtende Auseinandertreten von Krieg und Holocaust (steht) für die Tendenz eines ohnehin diagnostizierbaren Verfalls des geschichtlichen Denkens und des ihn begleitenden Verlustes historischer Urteilskraft". Warum die beiden Banalitäten zwei Freudsche Fehlleistungen ihres Verfassers darstellen? Weil sie das Herzstück seiner von ihm seit zwanzig Jahren vertretenen Geschichtsmetaphysik dementieren, in der er Krieg und Holocaust systematisch auseinandertreten läßt.

Der Band "Gegenläufige Gedächtnisse" enthält vier Aufsätze und eine Vorrede. Im ersten Aufsatz gibt Diner einen Abriß der Erkenntnistheorie des Holocaust, wobei er seinen Lehrsatz vom "universellen Zivilisationsbruch" in den Mittelpunkt stellt. Er fragt, ob der Mord an den europäischen Juden womöglich "profanen historischen Erklärungen entzogen", ob er "singulär, gleichsam aus seiner geschichtlichen Verankerung herausgerissen" sei. Das sind für ihn bloß rhetorische Fragen, denn die "Zivilisationsbruch"-These basiert ja gerade auf der Voraussetzung, daß der Holocaust "alle bisher als gewiß erachteten ethischen und instrumentellen Schranken von Handeln" eingerissen und "jedes ontologische Weltvertrauen zerstört (hat), jedes wie auch immer verwerfliche Handeln werde von Maßgaben zur eigenen Selbsterhaltung reguliert". Er knüpft an eine These an, die Hannah Arendt in "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" entwickelt hatte, unter Absehung freilich von historischen Fakten und Zusammenhängen. Auch Diner hat sie nie durch faktengestützte Akkuratesse untermauert, er variiert sie nur in redundanten Endlosschleifen.

Der auch ihm gewiß unverdächtige Historiker Ian Kershaw nimmt bei Hitler "die alte Idee von der Geiselnahme der Juden" als treibende Kraft an. Hitler habe die Juden als "ein Pfand bei Verhandlungen mit den 'von Juden geführten' westlichen 'Plutokratien', besonders den Vereinigten Staaten", angesehen, um diese zum Friedensschluß zu zwingen bzw. vom Kriegseintritt abzuhalten. Nach dem Kriegseintritt der USA sei der Ton "bedrohlicher und rachsüchtiger denn je" geworden. Wenn man bedenkt, daß Hitler zu jenem Zeitpunkt - Dezember 1941 - den Krieg als verloren ansehen und sich für diesen Fall als toten Mann betrachten durfte, dann war in seiner Verbrecherlogik die demonstrierte Bereitschaft zur Geiselermordung großen Stils durchaus noch "von Maßgaben zur eigenen Selbsterhaltung reguliert".

Diner ignoriert das und fabuliert über "sakrale Imprägnierungen" - eine von ihm bis zum Überdruß verwandte Formulierung. Damit verläßt er den Bereich der Wissenschaft und wird zum Schamanen, gegen den der Wissenschaftler in ihm sich mit Freudschen Fehlleistungen zur Wehr setzt. Dem Schamanen aber geht es - um Politik!

Aus seinem 1991 veröffentlichten Buch "Der Krieg der Erinnerungen und die Ordnung der Welt" geht hervor, daß für Diner die Symbol-Geschichtspolitik ein Teil der Machtpolitik ist, denn sie beeinflußt den Begriff des Politischen. Das Buch reflektiert die Phase der Wiedervereinigung und den Golfkrieg, der in der deutschen Öffentlichkeit auf Ablehnung stieß. Für Diner war das ein Anzeichen, daß Deutschland beginne, sich seiner "Selbstverpflichtung gegenüber Israel zu entledigen" und "die historische Kehre, die das Ende des Kalten Krieges markiert, die über Amerika vermittelte Bindung zwischen der Bundesrepublik und Israel" zerreißen würde. Die deutsche Kriegsverweigerung sei der Versuch gewesen, gegenüber dem Westen einen "inneren Souveränitätsgewinn" einzustreichen. Zwar überschätzte Diner den Umfang des politischen Hintersinns, doch es traf zu, daß die unmittelbare Abhängigkeit Deutschlands von den USA durch den Wegfall der sowjetischen Bedrohung objektiv kleiner geworden war. Das konnte die amerikanische Präsenz in Deutschland anachronistisch machen und damit auch die "Symbolik dieser Präsenz: Israel und die Juden".

Heute sind diese Befürchtungen Diners gegenstandslos. Die Lockerung des Fremdzwangs ist durch den verstärkten Selbstzwang mehr als kompensiert worden. Der gesteigerte Selbstzwang rührt daher, daß die 1991 geäußerte Überzeugung Diners: "Nicht allein das Regime, die gesamte Nation ist mit den Massenverbrechen affiziert", inzwischen tief ins kollektive und individuelle Gedächtnis der Deutschen eingesenkt worden ist. Mag sein wissenschaftlicher Gehalt auch gering sein, politisch trägt das introduzierte Bewußtsein einer die irdischen Maßstäbe sprengenden und daher untilgbaren Schuld reiche Früchte.

Aber es gibt neuen Anlaß zur Sorge, denn die Globalisierung führt zu einem Geflecht der "gegenläufigen Gedächtnisse", die sich gegenseitig relativieren. Nach 1990 beanspruchten die historischen Erfahrungen der Osteuropäer, deren zentrale Opfergeschichte durch den Stalinismus verursacht wurde, internationales Gehör. Für die Dritte Welt schließlich sind "koloniale Verwerfungen" entscheidend. Diners Ausführungen dazu sind lesenswert. Eine praktikable Alternative zur Pluralisierung der Gedächtnisse weiß auch er nicht. Der Krieg der Erinnerungen geht also weiter! Darin kann für alle die Chance zu einem Befreiungskrieg im Geiste liegen.

 

Dan Diner: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, broschiert, 128 Seiten, 14,90 Euro

Foto: Gemeinsames Gedenken an kommunistische und NS-Opfer im Wald von Bikernieki bei Riga: Universeller Zivilisationsbruch

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