© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/08 18. Juli 2008

Ehrgeizig, verwegen, fleißig
Karl der Kühne: Eine Ausstellung in Bern erweckt einen Teil europäischer Geschichte wieder zum Leben
Karlheinz Weissmann

Karl der Kühne" - "Charles le Téméraire", die große Ausstellung im Berner Historischen Museum über den berühmtesten Herzog von Burgund, wird deutsch und französisch beworben. Das entspricht der Lage Burgunds zwischen Deutschland und Frankreich, es entspricht aber auch der Umstrittenheit dieses Mannes, den die Franzosen eben nicht den "Kühnen", sondern den "Tollkühnen" nennen, das heißt den, dessen Kühnheit kein Maß kennt, sondern "toll" - "verrückt" erscheint.

Karl war ohne Zweifel ein "entsetzlich leidenschaftlicher Mensch" (Jacob Burckhardt), und er folgte verwegenen Plänen. Deren Ziel war es, Burgund aus seiner prekären Mittellage zu befreien, indem es zum selbständigen Königtum erhoben und eng an das Reich gebunden wurde. Das war schwer erreichbar, aber nicht ausgeschlossen, vor allem wenn man die Willensstärke des Herzogs und seinen Eifer - Zeitgenossen nannten ihn auch "Charles le travaillant" - "Karl den Arbeitenden" - bedenkt. In Bern werden jedenfalls Unterlagen sorgsam präsentiert, die zeigen, wie Karl daranging, die Verwaltung Burgunds systematisch auszubauen und organisatorisch zu straffen. Die vergilbten Blätter gehören zwar zu den weniger eindrucksvollen Stücken, aber das mindert ihre historische Bedeutung nicht. Wie die Ordonnanzen für das Heer und das Handbuch der Kriegführung, die Karl selbst abgefaßt hat, sind sie Ausdruck einer Rationalität und eines Fleißes, die im auffallenden Kontrast zum sonst üblichen Bild des Fürsten stehen, den Ehrgeiz und Geltungsdrang vorwärtstrieben und der vor allem für seine Prachtentfaltung berühmt war, die ganz und gar der feudalen Welt zugehörte.

Deren Überreste machen die eigentliche Anziehungskraft der Berner Schau aus: die Tafelbilder - darunter Hans Memlings berühmtes Altarretabel für den Brügger Kaufmann Willem Moreel - und zahlreiche andere Gemälde, die beeindruckenden Buchmalereien, Reliquiare und anderen religiösen Kunstwerke, die Prunkrüstungen, die beim Zusammentreffen mit Kaiser Friedrich III. und dessen Sohn, dem nachmaligen Kaiser Maximilian I. getragen wurden, Waffen, kostbares Spielzeug für Erwachsene wie Kinder, Insignien, Juwelen und Medaillen. Viele eindrucksvolle Stücke sind Leihgaben aus großen Sammlungen, wie etwa die Votivstatuette aus Lüttich und das berühmte Gebetbuch Karls des Kühnen, die das Paul-Getty- Museum in Los Angeles zur Verfügung stellte, vor allem aber handelt es sich um Berner Bestände und solche des Wiener Kunsthistorischen Museums.

Neben dem, was mit dem Übergang des östlichen Burgund an die Habsburger kam, handelt es sich um Teile der "Burgunderbeute", die nach der Niederlage Karls gegen die Eidgenossenschaft bei Grandson und Murten an die siegreichen Schweizer fiel; vor allem die ungeheuer aufwendig gearbeiteten, kostbaren Textilien - Tapisserien, Kleidungsstücke, Fahnen - vermitteln uns heute noch eine Vorstellung vom sagenhaften Reichtum Burgunds. Sie stehen stellvertretend für alles, was den Reiz des "Herbstes des Mittelalters" (Johan Huizinga) ausmacht, jene Spätzeit, in der Karl der Kühne noch einmal die Ideen von Ritterlichkeit und gottgewolltem Herrschertum, Kreuzzugsplänen und Lehnsbindung zur Darstellung brachte.

Die erwähnte Statuette, die früher der Kathedrale von Lüttich gehörte, ist eine Goldschmiedearbeit, die Karl knieend in voller Rüstung zeigt, dahinter Sankt Georg, mit einem Fuß elegant den Drachen niederhaltend, der ihm eine Hand auf die Schulter legt und mit der anderen seinen Helm abhebt, um sein Gesicht zu zeigen, das dem des Herzogs gleicht: Karl als Ritter eine Wiederverkörperung des idealen miles christianus. Das alles entstand, während in Italien die Renaissance begann, in Frankreich der Nationalstaat geformt wurde und in Karls Provinzen Flandern und Brabant das reiche Bürgertum ein neues - auch politisch gemeintes - Selbstbewußtsein zur Schau zu tragen anfing.

Hier war zuerst die Grenze aller Versuche Karls erkennbar, sein Reich einer zentralistischen Administration zu unterwerfen. Die niederländischen Städte beugten sich nur widerwillig und wurden zum Teil brutal unterworfen. Das Herzogtum blieb trotzdem sprachlich, kulturell und in bezug auf die ökonomische Entwicklung ein heterogenes Gebilde. Den Kern bildeten Herzogtum und Freigrafschaft Burgund im Süden, die Karl und seine Vorgänger allmählich verselbständigt hatten, und die reichen Provinzen im Norden; dazwischen klaffte eine Lücke - Lothringen -, die Karl nur für sehr kurze Zeit schließen konnte. Letztlich scheiterte er aber an der Breite des Widerstandes, den er durch seine Gewaltakte heraufbeschworen hatte.

Wie viele bedeutende Männer hat Karl der Kühne die Trägheit der Geschichte und die Macht der vielen Kleinen unterschätzt. Seine militärische Katastrophe war keineswegs zwangsläufig, aber eine Folge seines Starrsinns, und sie wurde auch zur Katastrophe seines Staates. Daß er selbst auf dem Schlachtfeld blieb, gefallen bei Nancy 1477, erscheint wie eine symbolische Konsequenz. Seine Tochter Maria konnte nur einen Teil ihres Erbes durch die Heirat mit dem Habsburger Maximilian retten; die Hoffnungen, die Karl an eine solche Verbindung geknüpft hatte, waren aber längst nicht mehr zu verwirklichen. Bald würde Burgund nur noch der Name einer reichen Provinz Frankreichs sein. Die mächtigen Nachbarn teilten die Beute rasch, das galt vor allem für Ludwig XI., schon ein Mann der kommenden "Staatsräson", der abgewartet hatte, bis der mächtige Feind erledigt war, während die Schweizer, die ganz wesentlich zum Untergang Karls beigetragen hatten, einen weiteren Schritt auf dem Weg hin zur staatlichen Unabhängigkeit vollzogen.

Die Berner Ausstellung erweckt einen Teil europäischer Geschichte wieder zum Leben, das fast vergessen ist. Die kluge und ästhetisch ansprechende Präsentation sowie das umfangreiche Begleitprogramm vermitteln auch dem, der sich mit der Geschichte Burgunds bisher nicht beschäftigt hat, eine Vorstellung davon, daß an gewissen Punkten die Geschichte unseres Kontinents eine andere Entwicklung hätte nehmen können. Das Mittelreich zwischen Deutschland und Frankreich, dieses germanisch-romanische Übergangsgebiet, wäre in Gestalt Burgunds eine solche Alternative gewesen. Der Historiker und Mediävistik-Experte Werner Paravicini, der mit einer Arbeit über Burgund unter Karl dem Kühnen promoviert wurde, urteilt jedenfalls zu Recht in seinem Aufsatz des Katalogbandes: "Hätte Karl gesiegt und sich durchgesetzt, die Zeitgenossen und wir mit ihnen würden so viel Zielbewußtsein, Methode, Hartnäckigkeit gründlich bestaunen."

Die Ausstellung "Karl der Kühne (1433-1477). Kunst, Krieg und Hofkultur" ist noch bis zum 24. August im Historischen Museum Bern, Helvetiaplatz 5, täglich außer montags von 10 bis 20 Uhr, Sa./So. bis 17 Uhr, zu sehen (www.karlderkuehne.org), danach vom 27. März bis 21. Juli 2009 im Groeningemuseum Brügge.

Der reich illustrierte, sehr empfehlenswerte Katalog mit 384 Seiten in deutscher Sprache kostet in der Ausstellung 64 SFr.

Abbildungen: Bildnis Karls des Kühnen (Öl auf Holz, um 1500); Votivbild von Karl dem Kühnen, hinter ihm der hl. Georg (1467-1471)

Abbildungen: Hans Memling (ca. 1440-1494), Triptychon von Willem Moreel (Brügge, 1484): Hauptwerk der altniederländischen Malerei

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