© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/08 11. Juli 2008

CD: Klassik
Wie Sirup
Jens Knorr

Mit "Sehnsucht", seiner ersten CD nach dem Wechsel von Decca zu Harmonia Mundi, beginnt der Liedsänger und Bariton Matthias Goerne (41) eine eigene Edition ausgewählter Schubert-Lieder, bei deren jeder Folge ein anderer Pianist den Bariton begleiten soll. (Harmonia Mundi HMC 901988)

Unter dem unverbindlichen Leitgedanken, der das unreine Reimwort Gähnsucht nahelegt, lassen sich immerhin so unvereinbare Dichter wie Goethe und Schiller, Karl Gottfried von Leitner und Johann Mayrhofer vereinen, die lediglich miteinander gemein haben, daß Franz Schubert einige ihrer Gedichte vertont hat. Goerne singt sie, und Elisabeth Leonskaja begleitet ihn, als wären sie alle eins: aus dem Geist der Nazarener, wie von Leopold Kupelwieser gemalt.

Die Angleichung der Ausdrucks­charaktere ist programmatisch. Nichts Zeitliches, der Vermittlung und des Vermittlers bedürftig, soll von dem kunstpriesterlichen Hochamt ablenken, das wir am Wiedergabegerät wiederholen dürfen, so oft wir möchten. Analytische Durchdringung wird ersetzt durch Herz, Seele und Empfindungen, für deren jede Goerne standardisierte Ausdrucksmittel parat hält, und Bericht durch Erleben aus zweiter Hand.

Matthias Goerne ist der Resonanzgott unter den Baritonen, der alle Klangräume vorbildhaft erschlossen hat und mitschwingen läßt, aber das scheint ihm neuerdings auch schon genug. Er läßt wie keiner sonst die Stimme im Mittelregister samten verströmen, unmerklich vom Pianissimo in Lautlosigkeit hinübergleiten, drückt jedoch - eine Folge undialektischer Auffassung von Wort-Ton-Relationen - sehr eigene Vorstellungen von Volumen und Tiefe durch, von deutscher Tiefe wohl. Dabei liegt vielleicht nur das eine oder andere Lied für seine Stimme zu tief. Um die Dramatik einer Situation nachzustellen, läßt er sich im Brustregister zu hohlröhrender Tongebung verleiten, in den oberen Registern zu riskanter Öffnung. Dickflüssig wie Sirup wälzt sich sein Gesang über die Lieder. Da macht es keinen Unterschied, ob "Der Jüngling am Bache" nach Schiller in der ersten oder zweiten Fassung, ob die "Gruppe aus dem Tartarus" oder "Memnon" mit Klavier oder in spätromantischem Orchesterarrangement gesungen werden. Goerne singt den "Jüngling" in der zweiten Fassung, die Lieder selbstverständlich in den originalen Klavierfassungen, die Elisabeth Leonskaja als willige Vollstreckerin des Sängerwillens orchestral raunend und mit viel Nachhall zelebriert. Auch hier: Verdopplung statt Dialog.

Goerne stellt seine stimmliche Kunst nicht in den Dienst der Lieder, diese dienen ihm nunmehr als Anlaß, seine stimmlichen Künste auszustellen. Der Ausnahmesänger bleibt ausgerechnet jetzt unter seinen künstlerischen Möglichkeiten, da er antritt, sie frei von den Zwängen des Marktes auszuschöpfen.

Schuberts Lieder erheben Einspruch gegen die schlechte Wirklichkeit des franziseischen Zeitalters und versuchen sie zu transzendieren. Goerne erhebt Einspruch gegen die unsrige aus dem Geist des späten 19. Jahrhunderts. So kommt weder diese noch jene mehr in seinen Interpretationen vor. Er singt, und sie spielen einen satten Sound, als wären alle wesentlichen Sehnsüchte bereits am Ziel.

Sind wir zum tiefsten Inneren vorgestoßen, "wo Stille herrscht, wo alles ernst und wahrhaftig und ohne Lüge ist", wie uns im Beiheft verkündigt wird, dann kann es schon mal passieren, daß wir mit der Lüge auch die Wahrheit verloren haben, daß wir nicht in der Wahrheit angekommen sind, sondern in der Lüge. Dann wird die Stimme nicht zum Äußerungsorgan von Wahrheit, dann wird Liedgesang gepflegt.

Hier gibt es kein Theater? Alles ist hier Theater!

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