© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/08 04. Juli 2008

"Die Krise ist die Mutter der Reform"
60 Jahre Soziale Marktwirtschaft: Das deutsche Erfolgsmodell ist gefährdet / Jenaer Aufruf zur Erneuerung
Klaus Peter Krause

Die Soziale Marktwirtschaft ist in die Jahre gekommen und sechzig geworden. Ihren Anstoß bekam sie mit der Währungsreform vom 20. Juni 1948, als die Reichsmark durch die Deutsche Mark ersetzt wurde. Zugleich gab Ludwig Erhard die Preise frei, setzte eine freiheitliche Wirtschaftsordnung mit dem (von Alfred Müller-Armack kreierten) Namen "Soziale Marktwirtschaft" durch, und der Wiederaufstieg Deutschlands begann. Als "Wirtschaftswunder" ist er zum geflügelten Wort geworden und in die Geschichte eingegangen. Heute gibt es weder die D-Mark noch ein Wirtschaftswunder. Aber wie steht es um die Soziale Marktwirtschaft?

Bei der großen akademischen Geburtstagsfeier in der Universität Jena ließ es sich nicht verbergen: Die deutsche Marktwirtschaft von heute ist nicht mehr die der ersten zehn, zwanzig, dreißig Jahre. Man muß sogar feststellen: Sie ist ganz schön heruntergekommen. Zwar wurde dies in Jena so wortwörtlich nicht gesagt, aber in den Vorträgen und Diskussionen kam in vielfältiger Weise zum Ausdruck, wie sehr dieses ursprüngliche Erfolgsmodell drangsaliert wird und gefährdet ist.

Auch in der Podiumsdiskussion über die "Zukunftsfähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft" wurde klar, daß es um sie nicht mehr gut bestellt ist. Die Moderatorin Karen Horn fragte: "Ist es noch Marktwirtschaft, was wir heute haben?" Schon im Programmheft las man von einer gewissen Orientierungslosigkeit der deutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik, die davon zeuge, daß das ordnungspolitische Fundament der Sozialen Marktwirtschaft mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten drohe.

Aber es ist schlimmer. Tatsächlich nämlich hat die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik ihre marktwirtschaftliche und damit auch freiheitliche Orientierung in wesentlichen Teilen längst verloren und das ordnungspolitische Fundament längst aufgegeben. Stichworte dafür sind die Alterssicherung, die Gesundheits-, die Familien-, Bildungs- und die Steuerpolitik, die unverantwortliche Überschuldung, der Klimaschutzwahn, die abenteuerliche Energiepolitik, der Arbeitsmarkt, die Political-Correctness-Diktatur und die Einwanderungspolitik. Auch die politische Unstetigkeit gehört dazu, denn Walter Euckens Grundsatz von der "Konstanz der Wirtschaftspolitik", eines seiner acht konstituierenden Prinzipien, ist verkommen zu einer Stetigkeit der Unstetigkeit, zu einem ständigen Hin und Her. "Die Rationalität des Ökonomen und die des Politikers sind nicht kompatibel", sagte später in der Diskussion Rolf Hasse.

Wenn also die Soziale Marktwirtschaft ihrer Gründerväter Franz Böhm, Ludwig Erhard, Walter Eucken, Alfred Müller-Armack, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow heruntergekommen ist, dann nicht von sich aus, nicht weil sie "versagt" hat oder gar immanent versagt, sondern weil sie politisch heruntergebracht worden ist (und wird), weil die Politik versagt, aber auch weil die Menschen versagen, von denen die Politiker wiedergewählt werden wollen.

Der Tübinger Wirtschaftswissenschaftler Joachim Starbatty, der in Jena temperamentvoll den Einführungsvortrag hielt, sagte hierzu unter anderem: "Das Problem ist nicht, daß der Leviathan Politik uns bestiehlt, sondern daß die Politiker unsere Wünsche erfüllen ... Der Leviathan sind wir. Die Bürger bekommen diejenige Politik, die sie wollen." Aber wenn sie sie wollen, haben sie sie dann, wie so gern gesagt wird, auch verdient? Sie haben nicht.

Doch sollten sie auch verstehen, warum sie sie nicht verdienen. Daher muß man den insofern "unmündigen" Bürger, wie Starbatty sagte, aufklären und zu dieser Mündigkeit "erziehen". In dieser Hinsicht sei Marktwirtschaft auch eine kulturelle Aufgabe - vielleicht aber eine unlösbare, wie er hinzufügte. Doch wer präsentiert den Bürgern die für sie "gute" Politik und überzeugt sie davon, daß sie diese und nicht die bisher gewollte wollen? Wer kann, wer soll es sein, der ihnen zur dafür nötigen Erkenntnis, zu dieser "Mündigkeit" verhilft? Vor allem Politiker, sagte Starbatty: "Politiker müssen sich auch mal des Sachverstands bedienen. Es ist nicht so, daß man mit Sachverstand Wahlen verliert." Ebendas jedoch geschieht durchaus, wie nicht nur Paul Kirchhofs Steuerkonzept 2005 gezeigt hat. Doch fehlt es offenbar an Politikern, die - wie einst Ludwig Erhard - ihren Wählern den Sachverstand glaubwürdig nahebringen können (und wollen). Erhard nämlich, sagte Starbatty, "konnte seine Botschaft authentisch und glaubhaft vermitteln". Politiker heute können es offensichtlich nicht oder wollen es aus Eigeninteresse nicht.

Muß also erst die große Krise, muß erst ein Zusammenbruch gekommen sein, damit die Bürger erkennen, welche Politik besser für sie ist? Diese Ansicht brachte der Wirtschaftswissenschaftler Rolf Hasse zum Ausdruck: "Die Krise ist die Mutter der Reform." Aber sein Kollege Viktor J. Vanberg fragte sogleich: "Wie tief muß denn die Krise sein, damit es zur Reform kommt?" Doch blieb seine Frage, wohl allgemein als eine rhetorische empfunden, in der voll besetzten Uni-Aula unbeantwortet.

Es sind auch andere Zeiten als 1948 und die ersten Folgejahre: Nach dem Krieg lag alles darnieder. Alle hatten so viel verloren, daß sie notgedrungen bereit waren, vom Verliererdasein freizukommen und wieder Gewinner zu werden. Das spielte der Idee von der Marktwirtschaft in die Hände und verhalf ihr zu dem bewunderten Erfolg.

 Andererseits hatte es Erhard durchaus schwer, seine Überzeugung von Marktwirtschaft, Freiheit und Selbstverantwortung der Bürger politisch durchzusetzen. Also sind ausschlaggebend wohl doch integre charismatische Persönlichkeiten, die Kundigkeit und Verläßlichkeit ausstrahlen und so die Bürger zu einem neuen Aufbruch bewegen können. Falls die politischen Parteien sie lassen.

Symbolkraft entfaltete das Wandgemälde über dem Podium der Uni-Aula. Es zeigt den Aufbruch Jenaer Studenten 1813 in den Befreiungskampf gegen Napoleon. Ein Kampf ist auch das Bestreben, Erhards Sozialer Marktwirtschaft (wieder) Geltung zu verschaffen. Schöne Symbolik ist ebenso, daß Eucken in Jena geboren und Röpke hier gelehrt hat. Auch der Wettbewerbsexperte Franz Böhm hat ab April 1936 in Jena Vorlesungen gehalten. Doch im März 1938 haben die Nationalsozialisten ihm den Lehrauftrag entzogen und ihn beruflich kaltgestellt, mit Mühe konnte er sich ihren Verfolgungen entziehen. Sein Wirken in Jena fand aber diesmal merkwürdigerweise keine Erwähnung.

Der "Jenaer Aufruf zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft" findet sich im Internet: www.sozialemarktwirtschaft.eu/Der_Jenaer_Aufruf.5245.0.html

Foto: Podium in der Universität Jena: "Rationalität des Ökonomen und die des Politikers nicht kompatibel"

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