© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/08 27. Juni 2008

Den Raum zum Erlebnis machen
Wulf D. Wagner baut mit seinem Monumentalwerk zumindest virtuell das Königsberger Schloß wieder auf
Andreas Büscher

Ohnmachtsgefühle erfassen den Rezensenten. Alles andere wäre auch so verwunderlich wie übermenschlich. Denn was soll man sagen zu einem gedruckten Ereignis mit 3.164 Anmerkungen? Und dies nicht etwa bei einer dieser randlosen Schwarten im mies gelumbackten Taschenbuchformat, wie sie S. Fischer oder Zweitausendeins zusammenpappen und die auch Adleraugen nur mit der Lupe Marke Glasbaustein lesen können. Nein, das magistrale - wenn dies bei einem Vierziger gestattet ist zu sagen - Lebenswerk Wulf Dietrich Wagners, zweispaltig gedruckt, liegt als Kiloware im sperrig-opulenten Atlasformat vor. Für die Bahn, für den Strand, für den speisekammertauglichen Ikea-Schreibtisch ist das definitiv nix. Leser mit luxuriösem Stehpult sind hier eindeutig privilegiert.

Die Zahl der Abbildungen? Sie ist Legion. Exakt 340 Schwarzweiß-Illustrationen und 41 farbige Reproduktionen, teilweise nach Vorlagen von Farbdias, die noch um 1943 angefertigt wurden. Mehr geht nicht. Hier von einer superlativen Leistung zu sprechen, grenzt an schiere Untertreibung. Zumal dies nur die erste Portion ist. Der Nachschlag, ein zweiter Band, soll uns in diesem Herbst erreichen. Vielleicht kommen wir dann auf 7.000 Anmerkungen, 1.000 Bilder und 800 Druckseiten. Auch als Kapitalanlage ist das nicht ohne Reiz. Wer den ersten Band in fünf Jahren antiquarisch sucht, wird beinhart das Doppelte des heutigen Ladenpreises hinblättern müssen. US-Hypothekenkrise hin oder her: Einer Daimler-, Siemens- oder Lufthansa-Aktie sollte man diese Rendite lieber nicht zutrauen.

Noch Fragen? Ja, worum geht es eigentlich? Um das Schloß in Königsberg, der Hauptstadt der Provinz Ostpreußen. Um den grauen Kasten am Pregel? 700 Jahre alt und von lieben Sowjetmenschen 1968 endgültig abgeräumt, nachdem ihre zu jeder Kulturschande bereiten britischen Waffen-, wenn auch nicht Klassenbrüder das Schloß der preußischen Könige in zwei Augustnächten Anno 1944 phosphorgestützt zur ruinösen Immobilie umrüsteten.

Wer heute dort lustwandelt, wendet sich mit Grausen. Kaliningrad ist Königsberg nicht mehr. Auch Wolf Jobst Siedlers preußische Elegien ermessen diesen Abgrund nicht. Ein Walter Kempowski, den die Familie mit Königsberg verband ("Kennt Arthur nicht, das Arschgesicht, Obsthandlung Kempowski, direkt am Dom ..."), wäre der ideale Fährtensucher auf den Pfaden in die verlorene Zeit. Darauf ist seit dem 5. Oktober 2007 nicht mehr zu rechnen. Aber vorerst ist Wulf D. Wagner kein übler Ersatz - natürlich nur dort, wo die Mühen der Ebene zu bewältigen sind, da literarisch eher ehrgeizlos. Doch seinem irgendwie titanisch anmutenden Opus gelingt immerhin die virtuelle Rekonstruktion des, wie er im Vorwort einräumt, im Vergleich mit anderen europäischen Residenzen kunstgeschichtlich alles andere als beachtlichen Baus im Zentrum der ostpreußischen Metropole. Und damit liefert er, nach dem dreibändigen Alterswerk Fritz Gauses, dessen "Geschichte der Stadt Königsberg" (1965-1971), den aktuell bedeutendsten Beitrag zu dem ja nicht eben von bundesdeutschen Junghistorikern umlagerten Wettbewerb "Ostpreußische Landesgeschichte".

Wagner entgeht nichts. Ein buchhalterisch konditionierter Detailfanatiker, die personifizierte Akkuratesse. Er exzerpiert die Akten nicht, er zelebriert ihren Inhalt. Er kondensiert die Geschichte Ostpreußens in den Königsberger Schloßmauern, Prunkgemächern, Amtsstuben. Er scheint sie aus dem Mörtel zu kratzen, im dicksten Aktenstaub sichtbar zu machen. Das Korsett der Geschichte des Deutschen Ordens, der preußischen Herzöge und des in der Ära des "Großen Kurfürsten" (1640-1688) sich bereits anbahnenden Aufstiegs Preußens zur europäischen Großmacht - diese große Linien verliert er dabei nicht aus den Augen. Doch deren Spiegelungen im Schloßalltag stehen im Mittelpunkt dieser Zeitreise. Die führt ihn in positivistischer Abundanz fröhlich hinab zu den kulturgeschichtlich gewiß unverächtlichen Niedrigkeiten der "Aborte" im Schloß, deren nächtliche Entsorgung dem Scharfrichter und seinen Gehilfen oblag. Wie heute in Puerto Rico oder im Kongo gehört auch der Kampf gegen Ratten und Mäuse zu dieser Alltagsgeschichte eines Hofstaates der Frühen Neuzeit.

Wie schon in seinen Beiträgen zur Geschichte der adligen Gutsarchitektur Ostpreußens lautet Wagners Credo wiederum, "die Räume erlebbar" machen. Daher die Anstrengung, jeden Aktenband, jede erreichbare Bauzeichnung auszuwerten und alle Aspekte des herrschaftlichen Lebens zu vergegenwärtigen: die nimmerendenden Umbauten, die Innenarchitektur, das Meublement, Schloßbibliothek, Schloßkirche und Lustgarten, Himmelbetten und Gemälde, Fassadenschmuck, Deckengewölbe, Turmbekrönung, den Tagesablauf, wie ihn die Hofordnungen fixierten, natürlich dann ausführlichst die Krönung des Kurfürsten Friedrich III. zum König in Preußen, am 18. Januar 1701, kurz nach einer Periode des baulichen Verfalls.

Bei der Vielfältigkeit des selbstgesteckten Arbeitsfeldes ist kaum zu verhindern, daß sich die Masse der Details nicht ständig des Autors Absicht fügt, zur "Einbettung des Schlosses in die Landesgeschichte" beizutragen. Zumal die nicht nur für das 16. bis 18. Jahrhundert weiße Flecken aufweist. Oft muß sich Wagners Reproduktion des Faktischen daher verselbständigen, gerät zur Beschreibung um der Beschreibung willen, ohne jedoch überflüssig zu wirken. Viele Spuren wurden so erst einmal gesichert, viel Material nur bereitgestellt als Angebot ans kollektive Gedächtnis: im Vertrauen darauf, daß die preußisch-deutsche Geschichte im nordöstlichen "Raum" des Landes in der Erinnerung "erlebbar" bleibt.    

Wulf D. Wagner: Das Königsberger Schloß. Eine Bau- und Kulturgeschichte. Band I: Von der Gründung bis zur Regierung Friedrich Wilhelms I. (1255-1740). Verlag Schnell+Steiner, Regensburg 2008, gebunden, 390 Seiten, Abbildungen, 76 Euro

Fotos: Heinrich Mützel, Der Altstädtische Kirchenplatz zu Königsberg, Lithographie von 1836: Spuren als Angebot ans kollektive Gedächtnis; Fliesensaal nach Restaurierung 1936: Große Linien der Politik; Moskowitersaal mit Decke von 1887: Grauer Kasten am Pregel

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