© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/08 20. Juni 2008

Krieg zweier Angreifer
Der Angriff der Wehrmacht auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war weder Überfall noch Präventivkrieg
Heinz Magenheimer

Das jüngste Buch von Bogdan Musial "Kampfplatz Deutschland" (JF 17/08) gibt Anlaß, den aktuellen Forschungsstand zum deutsch-sowjetischen Krieg zu überprüfen. Seit dem Erscheinen der beiden brisanten Bücher von Viktor Suworow, nämlich "Der Eisbrecher" (1989) und "Der Tag M" (1994), hat die bisherige Grundthese der Zeithistoriker viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Diese Hauptthese, die unter anderem von Andreas Hillgruber und Hans-Adolf Jacobsen, aber auch von John Erickson und David Glantz vertreten wurde, besagte, daß sich Hitler vorwiegend von machtpolitischen und rassenideologischen Motiven zum Angriff auf die Sowjetunion 1941 leiten ließ.

Er wollte demnach den "bolschewistischen Weltfeind" im Zuge eines Vernichtungskrieges auslöschen, das Land ausbeuten und die Masse der Bevölkerung zu Zwangsarbeitern machen. Viele Autoren räumen zwar die umfangreichen Kriegsvorbereitungen der Sowjetunion ein, doch deuten sie diese rein defensiv als Antwort auf den deutschen Aufmarsch und bescheinigen obendrein der Roten Armee, nicht einsatzbereit gewesen zu sein. Dazu kommt die besonders von Gabriel Gorodetsky vertretene These, daß Stalin in seiner krankhaften Angst vor Desinformation die zahlreichen Warnungen vor einem Angriff der Wehrmacht in den Wind geschlagen und seine Armee nicht in Kampfbereitschaft versetzt habe.

Doch Anfang der neunziger Jahre meldeten sich zahlreiche russische Autoren und Historiker zu Wort, darunter Michael Meltjuchow, Waleri Danilow, Juri Afanassiew, Pawel Bobylew und Wladimir Neweschin, die Stalins Kriegswillen und zahlreiche Einzelheiten der militärischen und politischen Kriegsvorbereitungen ans Tageslicht förderten. Demnach habe Stalin in Einvernehmen mit Marschall Timoschenko und Armeegeneral Schukow, dem Generalstabschef, einen gewaltigen Offensivaufmarsch durchführen lassen, wobei allerdings die Ansichten über den Zeitpunkt der vollen Kampfbereitschaft geteilt sind. Nun treten auch bei diesen russischen Autoren Unterschiede in der Interpretation auf: Während die einen die These verbreiten, Stalin, Timoschenko und Schukow hätten einen Präventivschlag vorbereitet, um den Deutschen zuvorzukommen, orten die anderen eine prinzipielle Angriffsabsicht bereits seit den dreißiger Jahren; diese habe schließlich 1940/41 in die Vorbereitung eines Angriffskrieges gegen Deutschland und seine Verbündeten gemündet, dessen Ziel die Eroberung großer Teile Europas gewesen sei, noch bevor die Westmächte in Frankreich eingegriffen hätten.

Unter Auswertung der zahlreichen neuen Erkenntnisse über die sowjetische Rüstung, Gliederung, Bewaffnung und den Aufmarsch der Roten Armee aus russischen Quellen entstand im Westen eine publizistische Gegenströmung zur bisherigen Hauptthese.

Zu den Historikern, die diesen Forschungsweg beschritten und deshalb in der etablierten Historikergilde sehr umstritten sind, ja sogar als "anrüchig" gelten, zählen Werner Maser, Stefan Scheil, Joachim Hoffmann, Walter Post, Ernst Topitsch und auch der Verfasser dieser Zeilen. Doch auch in den USA leben Historiker wie etwa Richard Raack, Albert Weeks und Cynthia Roberts, die den sowjetischen Kriegsvorbereitungen einen offensiven Charakter zuordnen. Bemüht man sich nun, unter Weglassung persönlicher Betroffenheit streng wissenschaftlich vorzugehen, so verhindert vor allem der von Andreas Hillgruber eingeführte Begriff "rassenideologischer Vernichtungskrieg" eine nüchterne Betrachtungsweise.

Ein zweiter Kardinalpunkt, der den "Revisionisten" immer wieder vorgehalten wird, ist das Reizwort "Präventivkrieg". Allerdings haben fast alle Forscher, die das Faktum betonen, daß die Wehrmacht der Roten Armee im Angriff zuvorgekommen sei, nicht von Präventivkrieg gesprochen. Dieser tritt nämlich erst dann ein, wenn die angreifende Partei sichere Nachrichten besitzt, daß der Gegner selbst konkrete Anstalten zu einem Angriff trifft und wenn der Entschluß zum Präventivschlag aufgrund dieser gegnerischen Maßnahmen gefaßt wird. Die deutsche Führung traf jedoch den Entschluß nicht aufgrund einer unmittelbar bevorstehenden Angriffsdrohung, sondern aufgrund kaum annehmbarer Forderungen, die eine steigende Abhängigkeit vom Wohlverhalten Stalins begründet hätten, und der Gefahr eines britisch-sowjetischen Bündnisses. Mit anderen Worten, der Krieg mit der UdSSR galt mittelfristig als unvermeidlich, eine Sichtweise, die auch für Stalin zutraf.

Indem die Wehrmacht in einen übermächtigen, wenn auch unfertigen Aufmarsch der Roten Armee hineinstieß, begann sie de facto einen Präventivkrieg, ohne davon zu wissen. Daß Goebbels angesichts der gewaltigen Mengen an erbeuteten oder zerstörten sowjetischen Panzern, Geschützen und Flugzeugen im grenznahen Gebiet die Bezeichnung "Präventivkrieg" verwendete, hat für heutige Forschung keine argumentative Kraft. Was allerdings ungewiß bleibt, ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen und zu welchem Zeitpunkt ein sowjetischer Angriff zu erwarten gewesen wäre. Man sollte daher besser den Begriff "Krieg zweier Angreifer" benutzen.

Aus diesem Grund entbehrt es der Logik, von einem deutschen "Überfall" zu sprechen, da die sowjetische Führung genau über die deutschen Vorbereitungen im Bilde gewesen ist und auch umfangreiche Vorkehrungen getroffen hat. Daß die Wehrmacht dennoch enorme Anfangserfolge verzeichnete, lag nicht an der Ahnungslosigkeit des "Opfers", sondern am Charakter des Aufmarsches, der sich gut für den Angriff, aber kaum für die Verteidigung eignete und somit den Deutschen große Vorteile verschaffte. Worin sich die sowjetische Führung jedoch irrte, war der Zeitpunkt der Offensive und - wie selbst Schukow nachträglich einräumte - die Dichte der Truppen in den Durchbruchszonen. Die Chancen der Verteidigung wurden sowjetischerseits durchwegs unterschätzt.

Da davon auszugehen ist, daß Stalin niemals einen Angriffsbefehl unterschrieben hätte, um sich nicht festzulegen, kann man nur von den konkreten Maßnahmen auf die dahinterstehenden Absichten schließen. Am deutlichsten trat dies in Form des sowjetischen Aufmarsches in Erscheinung. Die Erste strategische Staffel mit 170 Divisionen - zu je 9.000 bis 14.000 Mann - war am 21. Juni 1941 mit zwei Dritteln ihrer Kräfte in grenznahen Stellungsräumen versammelt, während sich das übrige Drittel im zügigen Aufschließen befand. Jede der fünf nach Westen gerichteten Fronten hatte zwischen dem 20. Mai und dem 1. Juni eine detaillierte Aufmarschanweisung Schukows erhalten, aus der Gliederung, Dislozierung und Auftrag der Truppen hervorgingen. Wenn auch bis zur Beendigung des Aufmarsches Defensive angeordnet war, wurde mehrfach befohlen, bereit zu sein, um Angriffe zur Zerschlagung des Gegners zu führen und die Kampfhandlungen auf dessen Staatsgebiet zu tragen. Auch die Luftstreitkräfte, von denen viele Verbände grenznah stationiert waren, erhielten Aufträge zur Bekämpfung des Gegners und von Zielen im Hinterland der Front.

Auch wenn die Wehrmacht knapp über drei Millionen Soldaten für den Angriff aufbot und damit wenig unterlegen erschien, dokumentiert die operative Schlagkraft der Roten Armee beim Kriegsmaterial ein völlig anderes Bild. Den 3.505 deutschen Panzern, von denen nur 1.673 als kampfstark galten, standen 23.500 Panzer, davon 1.861 allen deutschen Modellen überlegene schwere und überschwere Panzer der Roten Armee gegenüber. Ähnlich kann die sowjetische Überlegenheit bei Qualität und Quantität der Kampfflugzeuge  eingeschätzt werden. Besonders auffällig war die Unterlegenheit bei der Artillerie, wo einem deutschen Geschütz die zehn- bis zwanzigfache Übermacht gegenüberstand.

Neben dem großen grenznahen Aufgebot befand sich die Zweite strategische Staffel mit 67 Divisionen, die aus mindestens sechs Armeen und zahlreichen mechanisierten Korps bestand, im Vorrücken an und über Dnjepr und Düna und stand mit vordersten Teilen bereits 200 Kilometer von der Grenze entfernt. Zu den beiden strategischen Staffeln zählten noch 15 Luftlandebrigaden, die sich vor allem für Angriffe an Schwerpunkten eigneten. Unter den elf Divisionen der strategischen Reserve befand sich eine, die nur aus Polen bestand und den Auftrag hatte, den Angriffsspitzen zu folgen und die Bevölkerung in den eroberten Gebieten propagandistisch zu bearbeiten. Am 13. Juni unterzog General Watutin, der Stellvertreter Schukows, den Aufmarschplan nochmals einer Revision, wobei er besonders die Kräfte im vorspringenden Bogen von Lemberg durch Armeen der Zweiten strategischen Staffel verstärkte.

Einige Interpretationen der sowjetischen Kriegsvorbereitungen bemühen sich um den Nachweis, daß die Pannen im Zuge des Aufmarsches so arg gewesen seien, daß man der Roten Armee keine Angriffsfähigkeit attestieren könne. Es ist bekannt, daß der unter großem Zeitdruck stehende Aufmarsch zahlreiche Engpässe in Mobilmachung, Transport und Bevorratung hervorgerufen hat. Es sind auch die Mängel in der Ausrüstung und Ausbildung vieler Truppenteile bekannt, etwa der Umstand, daß nur wenige Divisionen ihren Sollstand besaßen. Es erscheint aber unlogisch, daraus zu schließen, daß der Generalstab seinen Armeen keine Angriffskraft zugetraut habe. Die verantwortlichen Generäle waren erfahrene Truppenführer, und die Weisungen Schukows ließen keinen Zweifel daran, daß er die Verbände auch für Angriffsaufgaben einsetzen würde. Auch die oftmals angeführten Ausfälle im Offizierkorps und im Generalstab der Roten Armee durch die stalinistischen Säuberungen der Jahre 1937/38 wurden durch mehrere tausend Abgänge allein aus der Generalstabsausbildung der Frunse-Akademie mehr als ausgeglichen. Auch konnten einige Generale auf große Erfolge in der neuen Taktik der mechanischen Kriegführung zurückblicken wie Schukow oder "der sowjetische Guderian" Pawlow, die siegreich im japanisch-sowjetischen Grenzkonflikt 1939 triumphieren konnten. 

Die Annahme, daß die Rote Armee nach Vollendung ihres riesenhaften Aufmarsches in ihren Stellungen auf unbestimmte Zeit verharrt hätte, erscheint absurd. Insbesondere die durch Aufklärungsfotos der deutschen Luftwaffe im gesamten Grenzraum belegten Flugplätze mit großen Mengen offen gelagerter Abwurfmunition und die vielen Nachschubzüge unmittelbar hinter den grenznahen Bereitstellungsräumen deuten auf keine allzu langfristige Planung einer militärischen Offensivaktion hin. Zudem hätte anderenfalls die deutsche Seite erst recht Grund gehabt, einem immer offensichtlicher werdenden drohenden Angriff zuvorzukommen.

Schließlich kann man ein letztes Argument ausschließen, das den angeblichen Friedenswillen Stalins belegen will: daß Stalin nämlich die Offensivpläne seines Generalstabes nicht genehmigt habe, daß somit Timoschenko und Schukow auf eigene Faust gehandelt hätten. Wäre dem so gewesen, hätten die Genannten ein schweres Delikt begangen, da es unbedingte Pflicht war, alle strategischen Pläne zur Genehmigung vorzulegen. Unmittelbar nach dem 22. Juni hätte der ganze Zorn Stalins die führenden Militärs getroffen. Man kann sich ausmalen, welche Strafe die Genannten angesichts des Zusammenbruchs in den Grenzregionen erwartet hätte. Insgesamt gesehen sprechen die nackten Tatsachen eine deutlichere Sprache als so manche umständlichen Erklärungsversuche.

 

Dr. Heinz Magenheimer ist Militärhistoriker und lehrte an der Landesverteidigungsakademie Wien und an der Universität Salzburg.

Foto: Abgeschossener sowjetischer 52-Tonnen-Panzer beim Vormarsch auf Leningrad im Sommer 1941: Der Charakter des Aufmarsches eignete sich gut für den Angriff, aber kaum zur Verteidigung

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