© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/08 20. Juni 2008

Bismarck im Rückspiegel
Zwischen Stettin und Kolberg: Ein Ausflug nach Hinterpommern in versinkende Kulturlandschaften
Jochen Stenzel

Juni 2008. Das Quecksilber klettert auf 26 Grad. Ausflugswetter. Darum mal die "Rabatten inspizieren" (Ernst Jünger): nachschauen, was unsere polnischen Nachbarn aus ihrer Kriegsbeute so gemacht haben.

Über die Oder bei Küstrin. Von der Brücke aus ein Blick aufs preußische Pompeji, 1945 verteidigt "bis zur letzten Patrone". Flott die Neumark zurücklassend, das Schlachtfeld von Zorndorf und Soldin mißachtend, ist das Pommerland erreicht. Durchs zu neunzig Prozent kriegszerstörte Pyritz, Stadtmauerstümpfe anstaunend. Dann Stargard, 1945 nur geringfügig besser weggekommen. Rasch hindurch. Sehenswertes bietet die polnische Waschbeton- und Eternit-Tristesse der Gomulka-Ära nicht. Die Chaussee nach Norden, über Massow, gesäumt von Rapsfeldern. Mitunter zuckeln museale Trecker über den Acker. Kurz hinter Pflugrade geht es ostwärts, Richtung Daber. Unter grünen Kreuzgängen, durch eine endlose Allee. Glucks "Einem Bach, der fließt" im Ohr, gesungen von Elisabeth Schwarzkopf. Die Natur versöhnt, denn weder Hohen Schönau noch Voigtshagen und Cramonsdorf laden zum Verweilen. Erste Ahnungen, daß in diesem Habitat die Grenze zwischen Wohnen und Vegetieren öfter verschwimmt. 

Kurze Rast in Daber. Ein Castrum dort bereits 1295 urkundlich erwähnt. 1939 ein Ackerbürgernest mit 2.500 selbstredend deutschen Einwohnern, die letzten 160 von ihnen 1946 ausgetrieben, Opfer des Warschauer "Generalplans West". Heute 2.100 polnische "Neubürger". Der Marktplatz mittagsruhig dösend. Die Marienkirche, Stülersche Neugotik, nun katholisch und verschlossen.

Das Städtchen mit umliegendem Land Daber kam Ende des 14. Jahrhunderts als Lehen an das Geschlecht derer von Dewitz, eine der "großen" pommerschen Adelsfamilien. Der in Daber geborene Kanzler Jobst von Dewitz half hemdsärmelig mit, in Pommern die Reformation durchzusetzen. Dem Anteil der Dewitze an der Geschichte Pommerns und Preußens widmete der Berliner Historiker Gerd Heinrich 1990 ein dickes, jetzt schon seltenes Buch: "Staatsdienst und Rittergut".

Rund um Daber die "Dewitz-Dörfer", von Cramonsdorf, Weitenhagen, Farbezin im Westen bis Maldewin im Norden und Wangerin B im Osten. Mittendrin Meesow. Auf dem Weg nach Labes, der Kreisstadt des Kreises Regenwalde, mit Landgestüt, einst das "pommersche Trakehnen". Meesow zeigt die übliche strenge Struktur kolonialer Siedlung. Am westlichen Eingang die Kirche, dahinter das Bauerndorf. An der Straße zum Gut der Kaufmannsladen, die entkernte Mühle am Stauwehr des Bächleins Uckeley, die Insthäuser der Gutsarbeiter. Die Heimat der Pommerening, Kühl, Backhaus, Pribbernow, Küther, Wendt und wie die Familien dort zu heißen pflegten, wo nicht nur die Kornkammer Deutschlands sondern auch Preußens Soldatenland zu finden war. Die "Knochen des pommerschen Grenadiers", die Bismarck nicht leichtfertig für Balkanhändel opfern wollte, schonten zwei Weltkriege nicht. Das gilt ebenso für den kinderreichen Meesower Patron Oskar von Dewitz (1845-1932), eine "typbildende Gestalt" der Provinz (Gerd Heinrich), verheiratet mit Lisbeth von Loeper (1852-1940), die plattdeutsch als "Herremutter" besser charakterisiert ist denn als "Königin-Witwe" (Heinrich). Der Ehe entsprangen zehn Söhne und vier Töchter.

Die würden ihr Geburtshaus jetzt nicht mehr wiedererkennen. Vor 1990 war es bis unters Dach noch betretbar. 2008 hat der Bankrott des polnischen Agrarsozialismus, der seine desaströsen Geschäfte meist von devastierten Gutshäusern aus organisierte, Meesow wie die meisten anderen dieser verbliebenen Inseln ostelbischer Kulturlandschaft mit in den Abgrund gerissen. In den oberen Stockwerken gähnen Fensterhöhlen. Das Haus wandelt sich zur Ruine. Ebenso die Wirtschaftsgebäude. Nichtsdestotrotz forkelt in einem kaputten Stall eine alte Frau Heu. Weit und breit keine Tiere zu sehen, nicht einmal Federvieh auf dem Hof oder in den Gärten gegenüber, wie noch vor zehn Jahren. Der Gutsgarten nebst Park eine von der Natur zurückeroberte Wildnis, Mauerwerk und verrostete Zäune überwuchernd.

Einen Steinwurf weiter der Bahnhof, doch die Schmalspurbahn von Daber über Meesow nach Regenwalde und Labes verkehrt nicht mehr. Die Schienen sind verschwunden. Der Spaziergang vom Bahnhof hinunter zum Wothschwiensee lohnt nicht. Das verträumte, 1939 noch vom Protz des 19. Jahrhunderts befreite Gut Schwerin wurde 1945 von Rotarmisten planiert. Der letzte Besitzer, Bernhard von Wedel, führte seine "Leute", mit den Dewitzens aus Wangerin und Meesow am 3. März 1945 aufbrechend, ein paar lebensrettende Stunden vor Ankunft der mordenden, vergewaltigenden und brandschatzenden Sowjet-Soldateska, ohne Verlust nach Schleswig-Holstein. 

Weiter nach Zeitlitz, Meister Adebar winkend, der auf versumpftem Acker unter Fröschen aufräumt. Zeitlitz, das 1.500-Hektar-Gut, hatte im "Dreikaiserjahr" 1888 Hans von Diest übernommen, der es in den Zwanzigern seinem Sohn übergab. Das "neue" Herrenhaus äscherten die Russen 1945 ein, das "alte" ist unidentifizierbar. Das polnische Staatsgut Zeitlitz wirkte 1993 auf einen Besucher, der sich darüber im Adelsblatt äußerte, "trostlos", die Ernten erreichten "niedrigstes Niveau", und die polnische Bevölkerung sehe ihre Zukunft als "hoffnungslos" an. Wie mögen sie sie heute erst sehen, im Schutt und Schrott des inzwischen fallierten Staatsguts?

Man darf sicher sein, für die Weiterfahrt keines Cicerones mehr zu bedürfen. Das einzige Werk, das ansatzweise dafür taugt, Hubertus Neuschäffers "Schlösser und Herrenhäuser in Hinterpommern", sparte ja unser "Zielgebiet" schon 1993 weitgehend aus und ist ob der seitdem sich fortfressenden Verwüstung und Verwahrlosung ohnehin kaum mehr aktuell.

In Zeitlitz gewendet, Kurs Regenwalde. Durch Groß Borckenhagen, wo nur zerlöcherte Stallungen an die Lage des Gutes erinnern. Gleich hinter dem Dorf scharf nach links abbiegend, dem polnischen Straßenschild "Rogowo" folgend, nach Hoffelde und Roggow A. Gut Haseleu streifend, dessen Rest wie eine Biberburg aus überfluteten Feldern ragt. Drainage findet hier seit langem nicht mehr statt.

Zwischen den Ruinen des Gutsbetriebs von Hoffelde, verkohlten Überbleibseln von Scheunen, einstürzenden Ställen und dem Torso der Brennerei, wo eine polnische Familie haust, steht, von vielen Mietparteien okkupiert, tatsächlich noch ein schäbiges, aber halbwegs erhaltenes Herrenhaus, im Landhausstil, mit kurzen Säulen und Freitreppe: übel lädiertes Idyll unter majestätischer Rotbuche.

In Roggow A das protestantische Kirchlein katholisch umgerüstet. Neben vertrautem Verfall neu eingedeckte Häuser, kitschig-grell, frisch aus dem Baumarkt. Dazwischen Umrisse einer imposanten Hofanlage. Von Roggow A soll die Spur der Vernichtung eigentlich weiterverfolgt werden bis in die Umgebung Maldewins und Regenwaldes. Aber die Zeit fristet. Gewiß ist zudem die Aussicht, dort vom spätbarocken Juwel Stargordt nur eine Kulisse vorzufinden. Ebenso von Dewitzens Maldewin, bis 1945 mit edlem Interieur, dann ausgeplündert und 1960 von den Polen zum Steinbruch "umgewidmet".

Aber was ist aus dem verwunschenen Gut Höckenberg geworden - dem Refugium von Richard Skowronnek (1862-1932), dem mit Ullsteins Millionenauflagen verwöhnten Betreiber einer aufs heimatliche Masuren spezialisierten "Romanfabrik"? Aber mit "Pommerland" (1927) verschaffte er auch dem Milieu seiner angeblich nur Wild und Hund lesenden adligen Gutsnachbarn Eingang in die Literatur. Wir werden wohl wiederkommen müssen, um Höckenbergs Schicksal aufzuklären.

Heute bleibt nur Zeit, um über Daber Naugard zuzustreben. Mit Abstecher ins Diest-Land, nach Plantikow. Langgestrecktes Dorf, am Ende auf einer Anhöhe, gegen die Sonne, die Kirchenruine, Kloster Eldena ähnelnd, Caspar David Friedrich läßt grüßen. Daneben der von polnischen Agrarkollektivisten in die Pleite beförderte Gutsbetrieb. Ein Herrenhaus nirgends mehr zu erspähen, von den Gelassen für Pferd und Vieh zeugen nur Andeutungen. Allgegenwärtig rote Schildchen, die Einsturzgefahr signalisieren.

Im Katzensprung nach Farbezin, direkt an der Straße nach Naugard. Die Gutsherrin Elisabeth von Dewitz protokolliert am 7. Mai 1945 die dort und auf angrenzenden Höfen verübten Mordtaten an denen, die nicht geflüchtet waren. Notizen, die sie bei ihrer Austreibung zusammen mit Familienchronik und Bibel rettete. Hinter hohlem Mauerwerk lugt der Turm des Herrenhauses hervor, den Pfad dorthin versperrt ein Urwald. Überdies lassen Polen, die den deutschen Besuch mißtrauisch beäugen, keine Zuversicht aufkommen, man könne hier ungehindert ins Dickicht pirschen. Vielleicht ginge es dann so aus wie zuletzt in der Pyritzer Gegend, wo auf einem Gutshof die Kühlerhaube fast Bekanntschaft mit der Mistforke einer polnischen Furie gemacht hätte.

Also kehrt Marsch und mit hurtigem Pneu nach Külz: Bismarckscher Besitz bis 1945, von einem Bruder des Reichsgründers vererbt. Das Gutshaus in bestem Zustand, kostspielig renoviert. Mit Geld aus der Bundesrepublik soll hier die deutsch-polnische Freundschaft im "europäischen Geist" gefördert werden.

Kniephof hingegen, gleich nebenan, des Reichskanzlers Domizil, als dieser noch pommerscher Junker war, "schwere Cigarren" rauchte und sich bemühte, seine Gäste "mit freundlicher Kaltblütigkeit unter den Tisch zu trinken", paßt seines Bewohners willen wohl nicht ins EU-Konzept. Kniephof, wo Otto von Bismarck von 1839 bis 1845 lebte, das er 1868 gegen das ostpommersche Varzin eintauschte, bis 1994 von einer polnischen LPG-Verwaltung genutzt, schockiert mit zugemauerten Fenstern. Nur die Gebäudehülle steht noch. Davor zwei Wellblechgaragen. An einer Scheunenstaffage ein Hundezwinger. Wütendes Gekläff, wie bestellt für diese Elendsszenerie. Irgendwo wulsten dreckige Kopfkissen aus der Giebelluke einer ramponierten Kate. Üppige Polinnen in Trainingshosen schieben Kinderwagen. An den Häusern bröckelt der Putz, drinnen dröhnen Fernseher. Auf manchen Dächern sind zwei "Schüsseln" installiert - mit der zweiten sieht man besser. Auf dem Rückweg nach Külz Halt in Jarchlin, dem dritten Bismarckschen Gut hier. Alte Frauen eilen mit dem Gesangbuch unterm Arm zur Abendmesse. Die Gutsanlage nur erahnbar. Külz europäisiert, Kniephof ruiniert, Jarchlin verschwunden.

Über Naugard, an Gollnow vorbei, umzingelt von polnischen Lastzügen, in denen verhinderte Formel-1-Piloten hocken. Der sinkenden Sonne entgegen, über die Oder-Brücken rasend, ist flugs die Botho-Strauß-Zone passiert, die Uckermark. Hinterpommern und Bismarck im Rückspiegel. Die Barbarei als Reduktion des Substantiellen, nur eine Autostunde von der Berliner Staatsbibliothek entfernt. Nachhaltig verstörend. Mitten in Europa expandiert das Niemandsland.          

Fotos: Verfallene Scheune in Hoffelde, Kreis Regenwalde: Von der Natur zurückeroberte Wildnis im Niemandsland; Heruntergekommene Häuser in Hoffelde, Meesow und Kniephof, Kreis Naugard: Paßt nicht ins EU-Konzept

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