© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/08 20. Juni 2008

Danke, Irland
Wer als Politiker zu spät begreift, den bestrafen die Völker: Europa braucht einen radikalen Neuanfang
Michael Paulwitz

Das Europa der Eurokraten steckt in der Sackgasse. Wie tief die Ratlosigkeit ist, verrät das Feuerwerk von Mythen und Durchhalteparolen, das die Lissabon-Apologeten seit ihrem "schwarzen Freitag" abfeuern. Daß Irland die EU in die Krise gestürzt habe, ist der erste Mythos. Dabei hat das Plebiszit auf der Insel lediglich als einziger Seismograph die Verstörung der Europäer durch die geplante putschartige Entmachtung der Nationalstaaten angezeigt. Auch andere hätten gern nein gesagt - keineswegs nur Niederländer und Franzosen, denen man ebendeshalb das souveräne Votum diesmal verweigert hat, mit dem sie vor drei Jahren den Vertrag zu Fall gebracht hatten, als er noch "EU-Verfassung" hieß. Daß dies ganz offen zugegeben wird, zeigt das Ausmaß der Verachtung der politischen Klasse gegenüber dem Souverän, dem Volk, dem zu dienen sie berufen ist.

Noch perfider ist der Mythos der "Undankbarkeit" der Iren, die in den 35 Jahren ihrer Mitgliedschaft durch großzügige Transfers aus Brüssel erst wohlhabend geworden seien. Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner sprach es vor der Abstimmung in beleidigender Plattheit aus. Als gäbe es eine Pflicht für EU-Mitglieder, staatliche Souveränität und nationale Hoheitsrechte für einen Milliardenbetrag zu verkaufen! 862.415 Nein-Sager unter vier Millionen Iren dürften 495 Millionen Europäer nicht aufhalten, lautet der dritte Mythos. Wollen denn die übrigen 491 Millionen tatsächlich dasselbe wie die Politiker, die den Lissabonner Vertrag zusammengeschustert haben? Gefragt hat sie keiner. Es sollte der politischen Klasse zu denken geben, wenn gerade ein Land, das zu den Hauptprofiteuren des Umverteilungsapparates gehört, nein sagt zu einer weiteren Zentralisierung der Union. Und was - der vierte Mythos - die Warnungen vor einem "Stillstand" angeht: Wenn der Marsch in die falsche Richtung geht, ist Stehenbleiben das beste.

Aber, so Mythos Nummer fünf, die meisten Nein-Sager hätten ja gar nicht über den Vertrag selbst geurteilt, sondern ihrer Regierung eins auswischen wollen oder über nationale Probleme abgestimmt. Ja, eben: Es geht den Iren - und den anderen Völkern, die stumm bleiben mußten - darum, selbst über ihre eigenen Belange entscheiden zu können. Eine EU, deren wuchernde Bürokratie immer tiefer in das tägliche Leben hineinregiert und die Europäer als Untertanen betrachtet, denen es ideologische Auffassungen zu Abtreibung, Homoehe und Genderismus einzuimpfen gilt, überschreitet ihre Befugnisse.

Den irischen Widerstand zu einem "Kommunikationsproblem" zu bagatellisieren, verrät wiederum viel über die Arroganz einer politischen Klasse, die die Bürger offenbar für zu dumm hält, um zu merken, daß man ihnen denselben alten Käse mit dürftiger neuer Verpackung andrehen wollte. Die EU-Kritiker haben - nicht nur in Irland - mehr dafür getan, den Inhalt des Vertrages bekanntzumachen, als die zuständigen Politiker, die ihn - wie der irische EU-Kommissar Charlie McCreevy - meist selbst nicht gelesen haben. Daher wohl der Erfolg der Nein-Kampagne.

"Wenn du merkst, daß du ein totes Pferd reitest: Steig ab!" Die alte Indianer-Weisheit ist wohl nichts für gestandene Eurokraten. Stur bleiben sie auf ihrem Lissabonner EU-Verfassungsgaul sitzen und mühen sich verzweifelt, den Kadaver mit schrillen Weiter-so-Parolen von "Irland raus!" bis "Kerneuropa" doch noch zum Laufen zu bringen. Gewohnt hastig hat man sich auf eine Neuauflage des alten Stücks geeinigt: Wie ignorieren wir den Willen der Bürger?

Dabei herrscht eine entrückte Realitätsverweigerung, die an die Spätphase der sowjetischen Breschnjew-Ära erinnert. Paris und Berlin wollen so tun, als wäre gar nichts passiert, den Vertrag weiter ratifizieren lassen und die Insel der Aufsässigen am Ende alleine dastehen lassen. Irlands Regierung wird dabei als Komplize behandelt, der nicht im Interesse des eigenen Volkes handeln soll: Nur ein paar Zugeständnisse und Ausnahmen, und dann wird so lange abgestimmt, bis das Ergebnis paßt. Nachdenklicher zeigte sich die slowenische Ratspräsidentschaft, die eine weitere "Denkpause" anmahnte. Soll diese nur dazu dienen, um aus dem Lissabonner Vertrag eine neue Mogelpackung zu schnüren, wäre die Zeit freilich vertan. Europa kommt erst wieder ins Rennen, wenn von der toten Mähre EU-Verfassung auf das Europa der Vaterländer umgesattelt wird. Das setzt freilich die Bereitschaft voraus, aus dem irischen Votum einige Lektionen zu lernen.

Erste Lektion: Wer Lissabon und Superstaat ablehnt, ist nicht "gegen Europa", sondern für ein besseres Europa - für einen Bund souveräner Staaten, in denen demokratische Mechanismen funktionieren. Denn - zweite Lektion: Staaten und Nationen sind die Subjekte der internationalen Politik. Sie sind die Bausteine Europas und kein Relikt, das überwunden werden muß. Denn nur in ihnen funktioniert demokratische Kontrolle und Gewaltenteilung.

Demokratie heißt, das ist die dritte Lektion, daß der Bürger das letzte Wort hat. Das verlangt Respekt vor dem Souverän und nicht "Bürgernähe" à la Sarkozy, die paternalistisch-herablassend versichert, die brave EU-Obrigkeit werde sich schon um alle sozialen Sorgen kümmern.

Viertens: Erweiterung und Vertiefung zugleich geht nicht. So notwendig es ist, daß die Staaten des Kontinents sich in Außenpolitik, Welthandel und Sicherheit abstimmen, so utopisch ist es, durch zentralistische Umverteilung und "Harmonisierung" überall gleiche Lebensverhältnisse schaffen zu wollen. Jede "Reform", die sich an dieser Quadratur des Kreises versucht, muß scheitern.

Schließlich ist Europa, fünftens, nicht nur Ökonomie, es hat Werte und Grenzen. Eine Union, die sich nur als Planierraupe für globale Geschäftemacher versteht, wird ihren Bürgern und Völkern immer fremd bleiben. Nicht die Vereinheitlichung der Gesetzbücher, sondern das gemeinsame geistige und kulturelle Erbe ist die Grundlage der europäischen Zusammenarbeit.

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