© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/08 13. Juni 2008

Eine Frage der Statistik
Die Bundesregierung verhandelt mit der Jewish Claims Conference über neue Forderungen
Doris Neujahr

Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) ist weder ein origineller Denker noch ein großer Rhetoriker. Auch in der Rede, die er am 11. März 2008 zur Eröffnung des Ständigen Sekretariats der Internationalen Holocaust Task Force (ITF) in Berlin hielt, segelte er in den seichten Wassern des bundesdeutschen Gesinnungskitsches. Die ITF ist eine internationale Organisation, welche die Erinnerung an den Holocaust fördern, pädagogische Konzepte erarbeiten und für die Erhaltung und Weiterentwicklung von Gedenkstätten sorgen soll. Ihr Verbindungsbüro richtete sie in Berlin ein, worin Steinmeier den Beweis "großen Vertrauens" sehen wollte.

Eine Passage seiner Rede ließ jedoch aufhorchen: "Es gibt viele berechtigte Weisen, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Es muß aber im Rahmen einer freiheitlichen, kritischen und selbstkritischen Debatte geschehen. Nennen wir diesen offenen Dialog in der Absicht, eine Moralität der gesellschaftlichen Praxis zu stärken, getrost einmal einen 'westlichen'. Sein universeller Anspruch bildet die Grenze zu jedweden Versuchen, Geschichte zu instrumentalisieren, gleichgültig, wo sie stattfindet." - Ein deutscher Außenminister, der sich gegen "jedwede" Instrumentalisierung der Geschichte wendet! War das eine Kritik am universellen Bewältigungsstreß, dem Deutschland "wegen seiner Vergangenheit" ausgesetzt ist?

Die Gelegenheit zur Probe aufs Exempel ist da! Vergangene Woche haben Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der Jewish Claims Conference (JCC) begonnen. Die JCC wurde 1951 in New York gegründet, um jüdische Entschädigungsansprüche gegenüber Deutschland zu vertreten. Bei den aktuellen Verhandlungen soll die Aufstockung von Entschädigungsfonds und die Erweiterung des Kreises der Bezugsberechtigten erreicht werden.

Ihr Repräsentant in Deutschland, Georg Heuberger, gab am 16. Mai in einem Interview mit der Springer-Zeitung Die Welt seine Wünsche kund. Er reklamierte die notwendige "Anpassung an wesentlich veränderte Gegebenheiten". Zuzüglich der laufenden Zahlungen stellte er einen jährlichen von Deutschland zu entrichtenden Mehrbedarf von 54 Millionen Euro fest. Der 1946 in Budapest geborene Heuberger begründete ihn mit dem zunehmenden Alter und der Pflegebedürftigkeit von Holocaust-Überlebenden, mit dem stetig steigenden Bedarf an Gesundheitsfürsorge und Altersbetreuung sowie den "dramatisch schlechten Existenzbedingungen von Holocaust-Opfern in Mittel- und Osteuropa, aber auch in Israel oder den USA". Das klingt weniger nach konkreten Spätfolgen des Holocaust, sondern vielmehr nach sozialen Problemen, die auch in Deutschland zunehmend auf der Tagesordnung stehen.

Ein Viertel der israelischen Rentner lebt unterhalb der Armutsgrenze. Als Reaktion darauf wurde im Frühjahr 2007 vom Wohlfahrtsminister ein Ausschuß eingesetzt, der seine Arbeit mit einer breit angelegten Definition des Begriffs "Holocaust-Überlebender" begann und 250.000 Menschen in diese Kategorie einordnete. So wurden die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die sich in Israel keine Rentenansprüche erarbeiten konnten und entsprechend schlecht gestellt sind, unter den Überlebenden subsumiert.

Im April kam in der Jüdischen Zeitung ein israelischer Rentner zu Wort, der das KZ überlebt hat und darüber klagte, mit 370 Euro im Monat auskommen zu müssen. "Aber dies ist kein Monopol der Holocaust-Überlebenden, sondern hängt mit der schlechten Altersfürsorge des Staates zusammen. Es gibt keine 250.000 Überlebenden, und es gibt keine 80.000 notleidenden Überlebenden in Israel. Dies ist eine Frage der Statistik und wird gewaltig aufgebauscht. Man sieht ja auch, daß die nicht böse auf die Deutschen sind, sondern auf den israelischen Staat. Der wahre Grund ist, daß die von Israel kompensierten Überlebenden jahrelang weniger bekommen haben als die aus Deutschland."

Damit wiederholt er, was bereits Norman Finkelstein in dem Buch "Die Holocaust-Industrie" (Untertitel: Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird) beschrieben hatte: Die Altersarmut jüdischer Überlebender ist nicht Deutschland anzulasten, sondern staatlichen Institutionen in Israel und vor allem Organisationen wie der JCC, welche die Entschädigungsgelder nicht an die Bedürftigen weitergereicht haben.

Die Forderung der JCC, würde sie erfüllt, könnte einen teuren Präzedenzfall schaffen. Heuberger versicherte, daß ihm "jede Hierarchisierung von Opfern" fernliege, doch habe Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Israel-Besuch "zum Ausdruck gebracht, "daß der Zivilisationsbruch durch die Shoah beispiellos ist und daraus für Deutschland eine immerwährende Verantwortung für die Überlebenden erwächst".

Die Suggestivformel "Zivilisationsbruch" - die auch Außenminister Steinmeier in seiner Rede vom 18. März 2008 verwandte - war vor zwanzig Jahren von dem Historiker Dan Diner in Umlauf gebracht worden. ("Hohepriester der Holocaust-Religion", JF 5/07) Obwohl ihre belastbare wissenschaftliche Begründung bis heute aussteht, hat sie sich durchgesetzt, weil sich durch sie finanzielle und politische Interessen transportieren lassen.

Aus der Insinuation eines quasi-religiösen Ausnahmeereignisses wird ein auf Dauer angelegter, völkerrechtlicher, politischer, finanzieller, moralischer Ausnahmezustand abgeleitet. Deutsche Politiker, die diese Operation gedankenlos nachvollziehen, ziehen damit Schaden auf ihr Land.

Heuberger sagt, der JCC gehe es darum, daß die Überlebenden ihren Lebensabend "in Würde" verbringen können. Aber gerade in Israel wachsen die Zweifel an ihren Motiven. Im vergangenen Jahr wurde dort im offiziellen Auftrag ein Bericht vorgelegt, wonach die JCC liquide Mittel in Höhe von einer Milliarde Dollar bunkert, hinzu kämen Vermögenswerte in unbekannter Höhe.

Mit der israelischen Kritik im Rücken wagte sich kürzlich auch der Spiegel aus der Deckung und schrieb von dem Verdacht gegen die JCC, "Geld zurückzuhalten, das für Überlebende des Holocaust bestimmt ist". Seit der Wiedervereinigung seien durch Rückübertragungen jüdischer Immobilien in der DDR und Ost-Berlin 1,5 Milliarden Euro in ihre Kassen geflossen, ihre Rücklagen hätten 2005 rund 780 Millionen US-Dollar betragen. Das würde ausreichen, um den angemeldeten zusätzlichen Finanzbedarf gut zehn Jahre lang zu decken.

Es ist Zeit, politische Rationalität in die deutsch-jüdischen Verhandlungen einkehren zu lassen. Doch Steinmeiers Kritik an der Instrumentalisierung der Geschichte richtete sich lediglich an die Adresse von Neonazis und den Iran!

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