© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/08 13. Juni 2008

Türkischer Kulturkampf
Der Streit um das Kopftuch offenbart den inneren Zustand des Landes
Günther Deschner

Am Bosporus ist der schon seit langem schwelende Machtkampf zwischen dem säkularen und dem gemäßigt religiösen Lager in gefährlicher Weise eskaliert. Mit großer Mehrheit hat das türkische Verfassungsgericht das jüngst mit den Stimmen der konservativ-islamischen AKP und der rechtsnationalistischen MHP beschlossene Gesetz wieder aufgehoben, das Frauen das Kopftuchtragen an türkischen Unis erlauben sollte. Recep Tayyip Erdoğan hat damit seine größte Niederlage seit seiner Regierungsübernahme erlitten.

Mit der Annullierung dieses Gesetzes rückt nun auch ein Verbot seiner AKP näher, die erst 2007 mit 47 Prozent wiedergewählt worden war. Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalçınkaya hatte bereits im März beim Verfassungsgericht einen Verbotsantrag gegen die AKP eingereicht, weil die Regierung Erdoğan die Trennung von Staat und Religion aufweiche, das Land einer schleichenden Islamisierung unterwerfe und die Verwaltung schrittweise mit ihren Leuten "umfärbe".

Die Lockerung des Kopftuchverbots verstärkte die Angst der kemalistisch-laizistischen Elite vor einem Islamisierungsprozeß auch deswegen, weil es die einzige große Gesetzesinitiative der AKP nach ihrem Erdrutschsieg von 2007 war. Jetzt kann es sich für die AKP rächen, daß sie statt auf ein kontinuierliches Ringen um eine neue Verfassung auf das "schnelle" Kopftuchthema gesetzt hat. Eine liberalere Verfassung hätte ihr nicht nur bei Liberalen und Linken im Land Unterstützung gebracht, sondern auch Brüssel ermöglicht, klarer zum angestrebten EU-Beitritt der Türkei Stellung zu beziehen.

Der Streit um das Kopftuch ist für die Türken von hoher Symbolkraft: In ihrer Wahrnehmung spiegelt sich darin der tiefgehende Konflikt um die politische Verfaßtheit des Landes. Für das säkulare Establishment ist das islamische Kopftuch ein rotes Tuch. Die Richter urteilten todernst, daß die Gesetzesänderung der AKP gegen Artikel der Verfassung verstößt, die besagen, daß die Türkei ein säkularer Staat ist, daß daran grundsätzlich nichts geändert werden kann und daß das Verfassungsgericht und nicht etwa das Parlament zuständig ist.

Am Kopftuchstreit läßt sich die Funktion des Verfassungsgerichts im Machtgefüge des Türkenstaats gut verdeutlichen. Die geltende Verfassung ist ein Produkt des Staatsstreichs der Militärs von 1982. Sie schützt auch Werte wie "Demokratie" und "Menschenrechte", aber noch mehr die noch deutungsbedürftigeren Grundpfeiler der Staatsideologie wie den "Nationalismus Atatürks", die "Unteilbare Einheit des Staates und seiner Nation" und den "türkischen Laizismus". Das Verfassungsgericht bezieht seine Machtstellung daher, daß die inhaltliche Ausgestaltung dieser heiligen Werte des Türkentums ihm überlassen ist. In der Geschichte der modernen Türkei hat es nie ein "Antikopftuchgesetz" gegeben. Erst ein Urteil des Verfassungsgerichts von 1989 hat das Tragen des Kopftuchs in staatlichen Einrichtungen offiziell als Angriff auf die laizistische Verfassungsmaxime gebrandmarkt.

Mit seinem aktuellen Urteil hat das Gericht gezeigt, daß es auch heute nicht davor zurückschreckt, die Rechte des Parlaments gründlich zu beschneiden. Weil dieses Gericht auch über das Parteiverbot entscheidet, gehört nicht viel Phantasie dazu, um vorherzusehen, daß es - wie erwartet im September oder Oktober - auch die AKP verbieten wird. Mit Parteiverboten hat es wohl weltweit die größte Erfahrung: 24 hat es bereits ausgesprochen. Im aktuellen Fall der AKP fordert der Generalstaatsanwalt ein Parteiverbot "für immer" und ein Verbot jeder politischen Betätigung von fünf Jahren für 71 ihrer führenden Politiker - einschließlich Regierungschef Erdoğan und Präsident Abdullah Gül.

Für die Türkei wäre ein AKP-Verbot von gravierender Bedeutung: Die Reformprozesse des Landes und seine Annäherung an die EU würden verlangsamt und kämen vielleicht vollends zum Stillstand. Auch für den inneren Frieden der Türkei wäre ein Verbot Gift. Die AKP hat enorm an Popularität zugelegt. Umfragen zufolge erreicht sie eine Zustimmung von 54 Prozent, die kemalistisch-linksnationale CHP nur 20 Prozent. Der außenpolitische Flurschaden wäre wohl noch schwerer: Seit Jahrzehnten predigt der Westen den Völkern des Nahen und Mittleren Ostens das Leitbild einer "moderaten islamischen Demokratie". US-Außenpolitiker und in ihrem Echo auch Politiker aus Berlin und Brüssel zeigten gern auf das türkische Modell, um zu demonstrieren, "daß es funktioniert". Damit wäre es, wenn sich die erstarrten kemalistischen Eliten mit ihrer Verbotspolitik durchsetzen, vorbei.

Es bleibt noch die Frage, ob die AKP ein Verbot hinnehmen wird, ohne ihre Anhänger zu mobilisieren? Die Szenarien reichen von einer Mobilisierung der Straße, um per Referendum eine neue Verfassung zu installieren und dem Höchstgericht die Legitimation zu entziehen, bis hin zu Neuwahlen im Herbst. Was immer die AKP nun tut, wird vom türkischen Generalstab und dem energischen Mehmet Yaşar Büyükanıt an der Spitze genau registriert: Die Drohung, den Laizismus notfalls auch mit militärischem Druck zu verteidigen, ist keineswegs vom Tisch. Aber ein Militärputsch ist solange unwahrscheinlich, solange man sich ein Verfassungsgericht hält, das einen Putsch auch mit den Mitteln des Verfassungsrechts inszenieren kann.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen