© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/08 06. Juni 2008

Kein Grund zur Entwarnung
Symptome des Niedergangs: Das Statistische Bundesamt legt neueste deutsche Auswandererzahlen vor
Martin Schmidt

Auswanderung ist wieder ein großes Thema in Deutschland. Massenmigrationen bieten nicht nur in Gestalt der Zuwanderung andersnationaler Völkerschaften Stoff für Diskussionen, sondern auch wegen des immer häufigeren Fortzugs von Deutschen. Das belegen nicht nur die vielen Fernsehreportagen privater Sender ("Die Auswanderer", "Mein neues Leben", "Deutschland ade", "Goodbye Deutschland") über heutige deutsche Auswandererschicksale, sondern auch die jüngsten Angaben des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden.

Gemäß dieser am 19. Mai veröffentlichten Daten stieg 2007 die Zahl gegenüber dem Vorjahr um sechs Prozent auf 165.000 Personen an. Dabei sind klare Schwerpunkte auszumachen: Während aus Westdeutschland und Berlin rund 151.000 Bundesbürger das Land verließen, waren es in Mitteldeutschland gerade einmal 14.000. Die Hauptziele lagen in der Schweiz (20.000 Personen), den USA (14.000) sowie in Polen und Österreich (je 10.000).

Während sich die Wiesbadener Statistiker über die Gründe nicht auslassen, lieferte Wolfram Weimer, Chefredakteur des Monatsmagazins Cicero, unlängst eine messerscharfe Analyse: "Man muß kein Pessimist sein, um in der Massenflucht ein Mißtrauensvotum gegen die Zukunftsfähigkeit des Landes zu erkennen. Was die Angelegenheit so heikel macht: Es sind die Besten und Jüngsten, die genug haben und gehen. Im Gegensatz zu den Auswanderungswellen des 19. Jahrhunderts verlassen nicht etwa Analphabeten, Bauern und verzweifelte Arbeiter das Land. Wir erleben keine Elendsflucht, sondern einen Exodus des gebildeten Mittelstands. Das Durchschnittsalter unserer Auswanderer beträgt 32 Jahre, es sind junge Ärzte und Ingenieure, Wissenschaftler und Facharbeiter, Handwerker, Techniker und ehrgeizige Dienstleister. Nach Angaben der OECD verliert derzeit kein anderer Staat so viele Akademiker. (...) Während unser Sozialstaat Hunderttausende Unqualifizierter aus den Randzonen Europas anzieht, fühlen sich die jungen Vertreter des Leistungsmittelstands hierzulande immer fremder."

Auch die statistisch relevante Zahl deutscher Rentner, die ihren Lebensabend in südlicheren Gefilden verbringen wollen, oder die Tatsache, daß zunehmend mehr Aussiedler nach Rußland zurückkehren, werfen ein bezeichnendes Licht auf die Lage eines Landes, dessen wirtschaftlich beste Zeiten der Vergangenheit angehören. Das Phänomen des Fortzugs Tausender, ja Hunderttausender meist jüngerer, gut qualifizierter Menschen ist eines der Schlüsselthemen der Berliner Republik.

Das gilt erst recht, da sich die real existierende multikulturelle Gesellschaft zunehmend und unübersehbar gegen die Deutschen kehrt. Denn die Türken - als größte und mit Abstand selbstbewußteste Zuwanderergruppe - beginnen mit Hilfe ihres Mutterlandes, weitreichende Forderungen an die bundesdeutsche (Noch-)Mehrheitsgesellschaft zu stellen, worauf viele Deutsche mit Enttäuschung und Empörung reagieren, andere mit Resignation und unbewußter oder bewußter Flucht ins Ausland.

Daß das Statistische Bundesamt neben einer Zunahme der Auswandererzahl von Deutschen erstmals seit 2001 auch wieder einen höheren Zuzug von Ausländern in die Bundesrepublik feststellte, verdeutlicht nur, daß man erst am Anfang einer neuen Etappe der Multikulturalisierung steht. Den 572.000 Migranten (plus zwei Prozent gegenüber 2006) standen 470.000 Abwanderer gegenüber (minus drei Prozent). Damit stieg der Wanderungsüberschuß ausländischer Personen gegenüber 2006 um 36 Prozent auf 102.000.

Wenn die Statistiker für die Deutschen parallel zu den sich stetig vermehrenden Auswanderungen auch eine wachsende Zahl an Rückkehrern (plus acht Prozent) hervorheben, ist zu bedenken, daß hier die Zuzüge von Spätaussiedlern eingerechnet sind. Dennoch seien die 110.000 Rückkehrer des Jahres 2007 ein Beweis dafür, so heißt es in den Medien, daß viele Deutsche "mobiler" geworden sind und ihren Fortzug nur als ein zeitlich begrenztes Vorhaben betrachteten.

Eine unlängst veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) zur Migrationsthematik stellte vor diesem Hintergrund die Rückwanderung nach Deutschland in den Mittelpunkt des Interesses. Damit fand das DIW nicht nur deshalb große Beachtung, weil die Untersuchung interessante Ergänzungen zu einem komplexen Prozeß bringt, sondern weil sie darüber hinaus Material für Beschwichtigungsversuche liefert. So schlimm ist es also doch nicht, seufzt der erleichterte Feuilletonleser und ergeht sich in Gedankenspielen über den von der Studie ausgemachten Trend des Hin- und Herwanderns in globalisierten Räumen. Aufkommende Ängste werden verdrängt, alte liebgewordene Vorstellungen vom harmonischen multikulturellen Zusammenleben konserviert. Ergänzend dazu sorgt eine im Frühjahr gestartete Fernsehserie des Senders Vox unter dem Titel "Die Rückwanderer" für eine breitenwirksame unterschwellige Verharmlosung.

Doch selbst wenn ein Teil der Auswanderer Deutschland von vornherein nur vorübergehend den Rücken kehrt, besteht kein Grund zur Entwarnung. Fest steht, daß es jenseits der ungleich dramatischeren Geburtenproblematik 2005 eine Trendwende gab: Nachdem noch in den neunziger Jahren jährlich Hunderttausende von Aussiedlern für eine nominelle Stärkung des deutschstämmigen Bevölkerungsteils sorgten, gibt es seither ein negatives Wanderungssaldo.

Auch der Hinweis auf die zunehmende Vernetzung der hochindustrialisierten westlichen Volkswirtschaften und die Entgrenzung moderner Anstellungsverhältnisse und Lebensplanungen gerade bei jungen Akademikern greift zu kurz. Das beträchtliche Ausmaß, das die Migration von Deutschen schon nach kurzer Zeit erreicht hat, erklärt sich nur dann ausreichend, wenn die tieferen psychologischen Ursachen einbezogen werden. Dabei stößt man unweigerlich auf die harten Fakten des deutschen Niedergangs: Geburtenschwund, ausbleibende politische Reformen, kollektiver nationaler Schuldkomplex und eben die rasch wachsende Überfremdung.

Noch kommen viele deutsche Auswanderer nach einigen Jahren im Ausland wieder zurück. Doch wird das so bleiben? Was ist, wenn die Unzufriedenheit mit den hiesigen Verhältnissen und die Vorteile in prosperierenden anderen Ländern schon bald derart groß werden, daß die Heimkehr nicht mehr angeraten scheint?

Foto: Die Mickymaus als Freiheitsstatue (New York, 2007): Nach der Schweiz sind die USA das bevorzugteste Auswandererland für Deutsche, gefolgt von Polen und Österreich

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