© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/08 06. Juni 2008

Die Keime des Verfalls
EU-Reformvertrag: Kann Irland die Ehre der Demokratie in Europa retten?
Alain de Benoist

David gegen Goliath: David ist diesmal Irland, dessen Verfassung es als einzigen EU-Mitgliedsstaat zu einer Volksabstimmung über die Ratifizierung des Lissabonner Vertrags verpflichtet - überall sonst in Europa reichte die Absegnung durch die Regierungen oder Parlamente aus. Somit ist Irland auch der einzige Staat, in dem das Volk als Hauptbetroffener entscheiden kann, ob es die Aufgabe seiner Souveränität zugunsten einer Union technisch-bürokratischen Geistes befürwortet, der es weitgehend an demokratischer Souveränität fehlt.

Wenige Tage vor dem für den 12. Juni angesetzten Volksentscheid bleibt dessen Ausgang weiterhin offen. Wie auch in anderen Ländern haben sich sämtliche großen Parteien bereits für eine Annahme des Vertrags ausgesprochen. Die regierende Fianna Fail ging mit gutem Beispiel voran - fast fünf Millionen Euro ließ sich Premierminister Brian Cowen seine Werbekampagne für den Lissabon-Vertrag kosten -, und die wichtigsten Oppositionsparteien Fine Gael und Labour stimmen in den Chor der "Ja"-Sager ein. Dagegen ist einzig die nationalistische Sinn Féin, die nur vier von 166 Sitzen im Dubliner Parlament hat.

Statt dessen erhalten die Vertragsgegner Unterstützung von außerparlamentarischen Gruppen: Auf der Rechten hofft die konservative Libertas-Bewegung des Industriellen Declan Ganley vor allem auf die Stimmen der Landwirte, die in der Brüsseler Agrarpolitik eine Existenzbedrohung sehen. Ihr linkes Pendant People Before Profits wurde von dem sozialistischen Europaparlamentarier Richard Boyd Barrett ins Leben gerufen.

Am 14. April veröffentlichte die 2006 vom Mutterkonzern der einflußreichen britischen Boulevardzeitung Daily Mail auf den Meinungsmarkt gebrachte Irish Daily Mail ein vertrauliches Memorandum, das die Strategie enthüllt, mit der die irische Regierung ihren Willen im Volk durchzusetzen versucht. Der Text stammt von einem britischen Diplomaten, der über sein Treffen mit dem irischen Außenminister Dan Mulhall nach London Bericht erstattet. Dort erfährt man, daß Dublin den Volksentscheid lieber erst im Oktober abgehalten hätte. Er wurde vorgezogen, da "das Risiko kontraproduktiver Ereignisse im Laufe der französischen Ratspräsidentschaft sehr hoch ist", denn "Nicolas Sarkozy ist vollkommen unberechenbar"!

Ein weiteres Fragezeichen steht hinter der Anzahl der Enthaltungen. Bereits 2001, als die Iren den Vertrag von Nizza per Volksentscheid ablehnten, bequemte sich gerade einmal ein Drittel der drei Millionen Stimmberechtigten an die Urnen. Gut möglich, daß sich dasselbe Phänomen wiederholt.

Was wird passieren, wenn die Iren "Nein" sagen? Manche sind der Meinung, man müsse die Abstimmung nur oft genug wiederholen, bis sie endlich nachgeben. So wurde es 2001 gehandhabt. Damals reichten einige Änderungen an dem abgelehnten Text, um bei einem zweiten Volksentscheid im Oktober 2002 das gewünschte positive Ergebnis zu erzielen. Freilich hat der irische Europaminister ein solches Vorgehen diesmal bereits ausgeschlossen.

Am wahrscheinlichsten ist, daß ein negativer Abstimmungsausgang ganz einfach nicht berücksichtigt würde. Darauf läßt zumindest das bemerkenswerte und völlig unbeachtet gebliebene Ergebnis einer anderen Abstimmung schließen: Als das Straßburger Parlament am 20. Februar die Ratifizierung des EU-Reformvertrags beschloß, wurde mit überwältigender Mehrheit (499 zu 129 Stimmen) ein Antrag abgelehnt, mit dem sich die Europäische Union verpflichten sollte, "das Ergebnis des irischen Volksentscheids zu respektieren". Ein Parlament verpflichtet sich auf demokratischem Wege dazu, das Ergebnis einer demokratischen Abstimmung nicht zu respektieren - ein erstaunlicher, beispielloser Vorgang, der ein hervorragendes Studienobjekt für Politologen abgeben dürfte!

In seiner Streitschrift "Le coup d'Etat simplifié" ("Der vereinfache Staatsstreich", JF 12/08) schreibt der französische Politiker Nicolas Dupont-Aignan, die Weigerung, den Lissabon-Vertrag dem Volkswillen zu unterwerfen, zeige, daß die politisch-mediale Klasse das Volk nicht mehr für mündig hält, eigenständig zu denken. Nicht zu Unrecht erkennt er darin einen Beweis für "die Absicht der europäischen Staatschefs, heimlich, still und leise mit der Demokratie zu brechen, um sie durch eine neue Form des mehr oder weniger offensichtlichen Despotismus zu ersetzen".

In Frankreich unterzeichneten Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten politischen Ecken - von den Gaullisten Jean Foyer, Jacques Dauer und Pierre Lefranc über den Sozialisten Jean-Pierre Chevènement und die Kommunisten Maxime Gremetz und Pierre Lévy bis hin zu rechten Souveränisten wie Paul-Marie Coûteaux, Philippe de Saint-Robert, Alain Griotteray, Philippe de Villiers - jüngst einen Appell gegen den "illegitimen Vertrag von Lissabon". Darin heißt es, dieser "mit Verachtung des Volkes und Verrat an der nationalen Unabhängigkeit" ratifizierte Vertrag sei "null und nichtig". Die Urheber seiner Ratifizierung werden aufgefordert, "sich dafür vor dem Volk zu verantworten".

Der ehemalige sowjetische Dissident Wladimir Bukowski hält den Vergleich zwischen EU und UdSSR nicht für überzogen. "Wie die Sowjetunion trägt die Europäische Union die Keime ihres eigenen Verfalls in sich", sagte er kürzlich: "Wenn sie untergeht, wird sie eine ungeheure Zerstörung zurücklassen."

Ob die Iren die Ehre der Demokratie in Europa retten können, muß die Geschichte erweisen.

Foto: Keltisches Kreuz vor EU-Himmel: Fast fünf Millionen Euro ließ sich die irische Regierung ihre Kampagne für das "Ja" kosten

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