© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/08 06. Juni 2008

Pankraz,
Buridans Esel und die Willensschwäche

Das öffentliche Getöse, das die Neurologen nun schon seit vielen Jahren um die uns angeblich fehlende Willensfreiheit entfachen, lenkt von einem Problem ab, das viel wichtiger ist und auch viel mehr Leute interessiert: von der Frage nach der Willensschwäche, der weakness of the will, der "Akrasia" der Alten. Jetzt endlich scheint Umkehr in Sicht. Die jüngste Ausgabe der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie (Stuttgart) ist zu einem guten Teil der Frage nach der Willensschwäche gewidmet, mit interessanten Beiträgen von Andreas Meier und Matthias Perkams.

Gesunder Menschenverstand geht ohne weiteres davon aus, daß wir eine Willensfreiheit haben, er weiß spontan, daß ohne Willensfreiheit jede Form von bewußtem Zusammenleben sinnlos wäre. Bei der Willensschwäche hingegen kommt er ins Nachdenken. Man kennt eben jene Zustände, wo man etwas tun müßte und "eigentlich" auch den Willen hat, es zu tun - und es trotzdem nicht tut, zu seinem eigenen Schaden und mit regelmäßigen Anfällen von Scham und Reue danach.

Jemand hat sich fest vorgenommen, mit dem Rauchen aufzuhören, aber bei der erstbesten Streßsituation greift er dennoch wieder zur Zigarette. Ein Student liegt im Bett und ist entschlossen, aufzustehen und an seiner Examensarbeit zu schreiben. Aber er bleibt liegen und versäumt so den rechtzeitigen Abgabetermin. Niemand hindert ihn am Vollzug seines Willens, keine Krankheit, keine dringlichere Aufgabe, ja nicht einmal eine ähnlich wichtige zweite Aufgabe, die man gegen die erste abwägen müßte. Es ist einzig die Willensschwäche, der "innere Schweinehund", der überlebensgroß im Wege liegt.

Wie kommt der da hin? Das hat die größten Denker der Vergangenheit beschäftigt, von Sokrates bis Thomas von Aquin, und es beschäftigt die Philosophen heute noch, siehe die Arbeiten von Donald Davidson oder Ursula Wolf. Sokrates und in seiner Spur die meisten "Rationalisten" sagten: Willensschwäche gibt es im Grunde gar nicht, es gibt nur Unkenntnis. Der Student im Bett entscheidet sich für die aktuellen Wonnen der Faulheit und gegen die Mühen der Examensarbeit. Er entscheidet damit wohl falsch, zumindest vorschnell, aber er entscheidet. Man müsse nur lange und ordentlich genug nachdenken, um richtig zu entscheiden.

Ins Wanken kam diese Überzeugung zum ersten Mal bei Aristoteles. Wer sich für momentane Wonnen entscheide und gegen langfristige Perspektiven, dessen Wille sei deutlich "eingeschränkt", meinte der große Peripathetiker, ihm fehle das zum Willen unbedingt dazugehörige sichere Entscheidungsvermögen. Dieser Auffassung schlossen sich später sämtliche "Dezisionisten" an, bis hin zu Carl Schmitt. Wille sei Entscheidungsvermögen, und es gebe leider individual- wie sozialpsychologische Konstellationen, die den Willen schwächten. Unterm Strich jedoch gelte: Dezision sei in jedem Fall besser als ängstliches Hinauszögern.

Schon im Mittelalter traten Spaßvögel auf, die sich über den Streit zwischen Rationalisten und Dezisionisten um die wahre Qualität der Willensschwäche lustig machten. Ihr Stichwort hieß "Buridans Esel". Diesem Esel werden zwei vollkommen gleichgroße und gleichwertige Heuballen vors Maul gehalten, und da er sich nicht für den einen oder den anderen entscheiden kann, verhungert er unweigerlich. Das Gleichnis war natürlich, gewollt oder ungewollt, ein machtvolles Plädoyer für den Dezisionismus. Man muß, so hieß die Botschaft, ein größeres Zutrauen zu seinem Willen haben als zu seinem Verstand.

Ein guter Verstand kann nie schaden, aber man sollte sich davor hüten, sich von ihm in bloßes Vernünfteln verstricken zu lassen, in ein ewiges Hin- und Herwenden von Möglichkeiten, eventuellen Folgen und Nebenwirkungen. Denn die Welt der Möglichkeiten (siehe Buridans Esel) ist unauslotbar, und sich angesichts dieser Tatsache früh und kraftvoll für eine bestimmte Möglichkeit zu entscheiden, ist vernünftiger, als sich im Namen der Vernunft bis zum Hungertod zurückzuhalten. Das gilt für Einzelentscheidungen wie für kollektive Ratschlüsse.

Mag sein, der Student im Bett, der sich für das Ausleben seiner Faulheit und gegen die rechtzeitige Abgabe seiner Examensarbeit entscheidet, macht einen Riesenfehler und verdirbt sich seine Karriere. Es könnte aber auch sein, daß sich sein momentanes Nichtaufstehen als vollkommen folgenlos erweist, ja es könnte sogar geschehen, daß es ihm zum Segen ausschlägt, beispielsweise indem er, nachdem er spät, aber gutgelaunt aus dem Bett gefunden hat, eines gloriosen Einfalls teilhaftig wird, den er früher nicht gehabt hätte und der ihm jetzt zu guten Noten verhilft.

Angesichts der realen Welt mit ihren unzähligen Möglichkeiten leiden wir alle an Willensschwäche, verhalten uns wie Buridans Esel im Anfangsstadium, fällt uns Entscheiden schwer. Indes, früher oder später müssen wir uns entscheiden, und dann zeigt sich, wer wirklich stark und wer hoffnungslos schwach ist. Selbstverständlich ist eine Entscheidung um so besser, je weniger sie aus dem hohlen Bauch heraus gefällt wird, je mehr sie von Wissen gesättigt ist. Außer Wissen gehören dazu aber Intuition, Spürsinn, Lebensklugheit und manches andere, vor allem Mut.

Wie sehr gerade letzterer heute fehlt, lehrt jeder Blick auf die aktuelle Politik hierzulande. Verantwortungsträger, ob gewählt oder nicht, sind in Deutschland kaum noch fähig, Verantwortung zu übernehmen, verstecken sich bei allfälligen Entscheidungen lieber hinter Gremiensprüchen, Consulter-Ratschlägen, medialem Geschwätz. Der Eigenwille ist nicht mehr nur schwach, er hat so gut wie abgedankt und damit auch der kollektive Wille, der nationale Wille, der Wille der Gemeinschaft.

Trial and error, lehrte einst Karl Raimund Popper, Versuch und Irrtum sind notwendig, um beim wissenschaftlichen Forschen zu guten Ergebnissen zu kommen. Die Formel taugt auch zur Behebung der Willensschwäche, sowohl beim aufsteh-unwilligen Studenten wie beim entscheidungsunwilligen Politiker in Berlin und anderswo.

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