© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/08 06. Juni 2008

Zahnlos und milde
Jugendstrafrecht im Kopfstand: Der Fall Erdinc S. erhitzt die Gemüter
Günter Bertram

Nehmen wir einfach einmal an, ein 17jähriger deutscher Bursche schlägt einen nichtsahnenden Türken vor den Augen seiner Kinder zusammen, so daß er getroffen zusammenbricht, wochenlang im Koma liegt und schwerer Hirnschäden wegen arbeitsunfähig bleibt; unterstellen wir weiter, der Täter gäbe vor Gericht an, er habe sich vom Opfer "provoziert" gefühlt und mit dem Schlag lediglich so reagiert, wie in seinen eigenen Kreisen üblich. Und nehmen wir an, der Richter - unbeeindruckt von des Staatsanwalts Antrag auf dreieinhalb Jahre Jungendstrafe - erlege dem Täter nur auf, ein "Anti-Aggressionstraining" zu absolvieren und eine Zeitlang Kontakt zu einem "Bewährungshelfer" zu halten, mit der Begründung, es habe sich nur um eine letztlich milieu-adäquate Tat gehandelt.

Was wären die Folgen? Die Glocken würden landauf, landab Alarm läuten: Wieder eine ausländerfeindliche Gewalttat unter den Teppich gekehrt und ein bösartiges Milieu feierlich zur "rechtsfreien Zone" erklärt! Ministerpräsident Erdoğan würde sofort nach Köln reisen und diesmal der deutschen Justiz den türkischen Marsch blasen. Wer würde es ihm in einem solchen Fall verargen?

Glücklicherweise ist der gedachte Fall rein fiktiv; der reale allerdings erschreckend genug: Das wirkliche Opfer war ein 44jähriger deutscher Arbeiter, wirklicher Täter der 17jährige Türke Erdinc S.; der Rest der Geschichte stimmt und läßt sich zum Beispiel im Kölner Stadt-Anzeiger mit den nach außen gedrungenen Details nachlesen; der Satz von der milieu-adäquaten Tat stammt vom Kölner Gerichtssprecher höchstselbst. Das alles kommentiert sich eigentlich allein - was wäre hinzuzusetzen?

Ist unser Jugendstrafrecht so zahnlos milde, daß des Rätsels Lösung in ihm liegt? Schwerlich, denn es hat die Prävention (" ... soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen entgegenwirken") auf seine Fahne geschrieben und stellt dem Richter deshalb, ohne an Strafrahmen zu binden, ein weites Sanktionsermessen zur Verfügung: von Erziehungsmaßregeln über Zuchtmittel bis zur Jugendstrafe (bei "schädlichen Neigungen" oder der "Schwere der Schuld"), wie hier selbst vom Verteidiger des Täters - allerdings auf Bewährung - beantragt. Wie problemlos auch das Jugendstrafrecht notfalls harte Strafen erlaubt, hat im Laufe der Jahre manches Urteil gegen wirklich oder auch vermutbar ausländerfeindliche Täter gezeigt.

In Köln scheinen die Dinge nun aber auf dem Kopf gestanden zu haben: Dem deutschen Opfer gilt dort nur ein bedauerndes Achselzucken; der türkische Beschuldigte indessen - staatsanwaltschaftlich als "Intensivtäter" registriert sowie gerichtlich schon wegen Raubes schuldig gesprochen - wird mit der mildesten Sanktionsart bedient, die das Jugendgerichtsgesetz kennt: mit zwei "Weisungen".

Spätestens seit den kriminologischen Forschungen der in Istanbul geborenen Necla Kelek ("Die verlorenen Söhne", 2006) aber kann jeder wissen, was delinquente türkische Jungen von solch einer Pädagogik halten: Sie können darüber nur lachen!

Gelächter hervorzurufen, liegt aber außerhalb der Ziele des deutschen Jugendstrafrechts und ist sicherlich das krasse Gegenteil von Besserung und Prävention. Man kann auch ohne detaillierte Fallkenntnis, die das Jugendgerichtsgesetz der Öffentlichkeit vorzuenthalten gebietet, die Hypothese wagen, daß diese Entgleisung dem Zeitgeist geschuldet ist: Wegen ausländerfeindlicher Gewalttaten, die in Deutschland ja leider geschehen und die dann mit Recht lebhafte öffentliche Resonanz finden (freilich nicht selten vorschnell und leichtfertig behauptet werden: siehe Sebnitz), haben bundesdeutsche Medien das Muster "deutscher Täter/ausländisches Opfer" dem öffentlichen Bewußtsein so nachhaltig als allein zulässig eingebleut, daß es vor einer gegenteiligen, "inkorrekten" Wahrnehmung instinktiv zurückschreckt.

Dabei hat etwa der bekannte Kriminologe Christian Pfeiffer schon Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts mit Hilfe eigener Erhebungen an deutschen Großstadtschulen (nicht der dürftigeren polizeilichen Kriminalstatistik) festgestellt, daß der Tattyp "türkischer Gewalttäter/deutsches Opfer" statistisch weit überwiegt.

Bis in die Medien sind diese hieb- und stichfesten Zahlen allerdings nie vorgedrungen - die mentale Sperre war und ist nahezu undurchdringlich. Aber jeder mit dem Milieu befaßte Praktiker bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichten wußten immer schon, was der Professor mit Zahlen und Daten erhärtet: Deutsche als typische Opfer ausländischer Jugendgewalt. Trotzdem kann der Druck des heutigen Zeitgeistes auch hier in Behörden, Ämtern und Gerichten gelegentlich die Realität verdrängen.

"Die rechtsprechende Gewalt ist den Richtern anvertraut" (Art. 92 Grundgesetz). Ihnen also und nicht dem Zeitgeist! Natürlich ist diese Entgegensetzung nicht ganz realistisch. Nach einer gewissen Unabhängigkeit vom Diktat der Zeit sollte aber gerade der Richter jedenfalls streben. Man wird hören, was demnächst die Kölner Berufungskammer zum Fall Erdinc S. sagt.

 

Günter Bertram war Vorsitzender Richter am Landgericht Hamburg.

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