© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/08 30. Mai 2008

Drohende Kontrolle des Allerheiligsten
Ich sehe, was du siehst: In Kalifornien und in Berlin wird die Entwicklung von Maschinen betrieben, die imstande sind, Gedanken zu lesen
Michael Manns

Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten". So lautet die erste Strophe des berühmten deutschen Volkslieds. Kein Mensch, heißt es darin, kann sie wissen, kein Jäger erschießen. Das Lied stammt aus dem 13. Jahrhundert. Wie lange die Aussage noch gültig bleibt, ist die Frage. Denn Hirnforscher und Neuropsychologen haben den Forschungskampf um unser Gehirn begonnen. Jüngst wurde im Wissenschaftsmagazin Nature gemeldet, daß es dem US-Forscher Jack Gallant (Berkeley) gelungen ist, ein Gerät zu konstruieren, das erkennen kann, was andere Menschen sehen. Die Neuroforscher nutzten für ihre prophetische Kunst die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT). Damit messen sie die Aktivität in denjenigen Hirnarealen, die für das Erkennen von Bildern wichtig sind. Bisher war es Wissenschaftlern lediglich gelungen, anhand von Messungen der Gehirnaktivität festzustellen, zu welcher Kategorie ein betrachtetes Bild gehört - ob ein Proband sich also zum Beispiel ein Haus oder ein menschliches Gesicht anschaut. Auch die räumliche Lage von betrachteten Gegenständen läßt sich mit der fMRT seit einiger Zeit herausfinden.

Gallant und seine Kollegen haben das Verfahren nun verfeinert. Dazu ließen die Forscher zunächst 1.750 unterschiedliche Schwarzweiß-Bilder betrachten, wobei sie die jeweils entstehende Gehirnaktivität aufzeichneten. Ein Computer, der die Bilder in viele einzelne Punkte zerlegte, erstellte aus den gewonnenen Daten ein Modell, mit dessen Hilfe die Gehirnaktivität für weitere 120 Bilder vorhergesagt wurde. Indem die Forscher die tatsächliche Hirnaktivität der Studienteilnehmer mit den Vorhersagen für die einzelnen Bilder verglichen, konnten sie mit einer Treffsicherheit von bis zu 92 Prozent angeben, welches Bild ein Proband gerade anschaute.

Gallant bewertete das Experiment so: Es sei wie bei einem Zauberer, der einen Zuschauer zufällig eine Karte aus einem Stapel ziehen lasse und dann herausfinden könne, welche Karte es sei. Der Zuschauer ziehe heimlich eine Karte und lasse dann per Scanner messen, was in seinem Gehirn vor sich gehe, während er die Karte anschaue. Die Forscher glauben, daß ihre Methode gut genug sei, um visuelle Erlebnisse auch in Echtzeit zu dekodieren.

Der nächste Schritt in bezug auf die visuelle Wahrnehmung wäre, auch ohne ein bekanntes Bilderset vorherzusagen, was eine Person sieht. "Das ist jedoch ein sehr viel größeres Problem", sagt der Neurowissenschaftler. Man brauche ein sehr gutes Modell des Gehirns, eine bessere Meßmethode für die Hirnaktivität als das fMRI und ein besseres Verständnis davon, wie das Gehirn Dinge wie Umrisse und Farben verarbeitet. "Und leider haben wir im Moment keines dieser drei Dinge", bedauerte Gallant.

Auch in Deutschland wird an den "Gedankenlesemaschinen" geforscht. John-Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computational Neuroscience arbeitet in Berlin daran. Sein Ansatz ist eine Art Lexikon des Gehirns: Sie zeigen einem Probanden verschiedene Symbole oder lassen ihn verschiedene Bewegungen ausführen und zeichnen mit Hilfe des Kernspintomographen dabei ein möglichst eindeutiges Aktivitätsmuster seines Gehirns auf. So entsteht - für jeden einzelnen Probanden individuell - ein Hirnlexikon. "Wir können mittlerweile ziemlich genau sagen, welche Bewegung ein Proband ausführt oder welches Symbol er sieht", sagt Haynes.

Querschnittsgelähmte könnten so einmal per Fernbedienung bestimmte Geräte bedienen, indem sie eine Reihe von Bildern vor ihrem geistigen Auge ablaufen ließen. Diese "Neuroprothesen" könnten den Patienten wieder etwas Freiheit und Selbständigkeit geben. Oder Ärzte könnten diese Technik vielleicht nutzen, um Hirnschäden bei Schlaganfallpatienten oder Altersschwachsinn zu untersuchen.

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