© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/08 30. Mai 2008

Wildnis in entleerten Räumen
Naturschutz: Eine Studie nennt Szenarien für den demographischen Wandel in Deutschland / Bevölkerungsrückgang gestalten
Volker Kempf

Wenn in Deutschland über die Folgen des demographischen Wandels diskutiert wird, dann geht es in der Regel um die Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme und die Arbeitswelt. Doch wie wirken sich Geburtenrückgang und Überalterung der deutschen Gesellschaft auf Natur und Umwelt aus? Mit dieser Frage beschäftigt sich eine Studie für das Bundesamt für Naturschutz (BfN), die eine am Fachbereich für Bio- und Geowissenschaften angesiedelte Forschergruppe der Universität Duisburg-Essen in Kooperation mit dem Büro für Zukunftsgestaltung "Z_punkt" in Essen erstellt hat. Angesichts der jüngsten UN-Vertragsstaatenkonferenz für biologische Vielfalt (JF 21/08) ist sie hochaktuell.

Im Jahr 1977 sah der konservative US-Geostratege und Kybernetiker Herman Kahn angesichts des weltweiten Bevölkerungswachstums in einer Kolonisation des Sonnensystems die einzige Alternative zum Überleben der Menschheit. Doch daß die Aussiedlung von Millionen Menschen im Weltraum sämtliche Ressourcen der Erde in Anspruch nehmen würde, darauf wies bereits der deutsche Ökologe Herbert Gruhl hin.

Daher muß man sich Gedanken darüber machen, wie sich Gesellschaften am intelligentesten auf der Erde einrichten können. Hinzu kommt, daß der Bevölkerungsexplosion in den zumeist armen Ländern des Südens ein Bevölkerungsrückgang und gleichzeitiger Strukturwandel in fast allen entwickelten Ländern gegenübersteht. Die Essener Wissenschaftler präsentieren zunächst Zahlen: "In der Gesamtentwicklung Deutschlands zeigt sich in den Jahren 1990 bis 1999 eine Bevölkerungszunahme von 3,2 Prozent." Langfristig allerdings werde die Einwohnerzahl zurückgehen, von derzeit 82,3 Millionen (je nach Zuwanderung) "auf etwa 80 bis 82 Millionen im Jahr 2015, bis 2025 sogar auf etwa 77 bis 79 Millionen".

"Bezeichnend" sei, daß das Thema Schrumpfung "weitestgehend tabuisiert" werde. Eher werde darüber nachgedacht, wie sich der Bevölkerungsrückgang verhindern lasse. "Daher", so heißt es in der Studie, "kann es kaum verwundern, daß in der wenigen Literatur aus Deutschland, die sich mit Fragen von sich entleerenden Räumen auseinandersetzt, bisher kaum Ideen präsentiert werden, wie mit diesem Prozeß umgegangen werden könnte." Daß Karl Otto Hondrich in seinem 2007 postum veröffentlichten Buch "Weniger sind mehr" argumentativ in die Offensive ging, den Geburtenrückgang als "Glücksfall" zu begreifen (JF 24/07), ändert nichts an dem benannten Tabu.

Vom Bevölkerungsrückgang werden am stärksten ländliche Regionen in den neuen Bundesländern betroffen sein. Die daraus folgenden Nutzungsänderungen in der Landwirtschaft könnten zu einem erhöhten Arteninventar führen. Bei großflächigem Rückgang in der Landwirtschaft sei vorstellbar, "daß die Wildnisidee umgesetzt werden kann, genauso wie in den schrumpfenden ländlichen Problemräumen. Durch diese Veränderungen können sich auch ganze Landschaften im positiven Sinne verändern."

Allerdings könne die Wildnisidee je nach Ausgangslage auch Veränderungen in der Landschaft bedeuten, die zu einer Gefährdung der Kulturlandschaft und der Eigenart von Landschaften führen. Auch müsse im Blick behalten werden, daß die intensive Landwirtschaft durch den Anbau von Pflanzen für Biokraftstoff (JF 50/07) mehr Monotonie in ländliche Regionen bringe und sich damit für den Naturschutz negativ auswirke.

Der Großteil der Zuwanderung werde in die Verdichtungsräume erfolgen. Hier sei die Zukunft in erster Linie durch bereits bekannte Problemlagen gekennzeichnet: den "Verlust von Arten und Biotopen durch Flächenumnutzung bzw. intensive Nutzung, weitere Zersiedelung und weiter deutliche Belastungen der natürlichen Ressourcen".

Diese Beispiele zeigen, daß sich durch eine Abnahme des Bevölkerungsdrucks nicht automatisch Vorteile für den Naturschutz ergeben. Insgesamt eröffne der Bevölkerungsrückgang aber die Chance, Naturschutzgebiete auszuweiten und so beispielsweise EU-Vorgaben nachzukommen. Denn Deutschland hat als dicht besiedeltes Land Probleme bei der Erfüllung entsprechender Richtlinien. Die vorliegende Studie empfiehlt einen bundesweiten Strategieplan, der über die Bundesländer und deren Untergliederungen zu zielorientierten Maßnahmen für den Naturschutz führt.

Auch unwahrscheinliche Entwicklungen wie eine Verdopplung der Geburtenrate wurden analysiert. Dies würde Infrastrukturmaßnahmen erfordern, ansonsten aber erst in längerfristigen Zeithorizonten auf Naturschutzbelange negativ durchschlagen. Bei der Zuwanderung hingegen würden vor allem die Ballungsräume belastet, zusätzliche Verkehrsinfrastruktur lasse die Ressourcenbeanspruchung wieder zunehmen.

Der BfN-Studie ist es hoch anzurechnen, Kahnsche Phantasiewelten weit hinter sich gelassen zu haben, um auf dem Boden der Tatsachen Forschungslücken und noch zu leistende Komplexitätsreduktionen aufzuzeigen. Weltanschaulich sind die Verfasser bemüht, weitgehend neutral zu bleiben, was bei der Diskussion um den demographischen Wandel keineswegs selbstverständlich ist.

Die Umweltstudie "Demographische Entwicklung und Naturschutz - Perspektiven bis 2015" findet sich auf der Internetseite des BfN: www.bfn.de/fileadmin/MDB/documents/demografischer_wandel.pdf

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