© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/08 30. Mai 2008

Verrat an der Familie
Die Politik entzieht der Keimzelle des Volkes schleichend die Lebensgrundlage
Jürgen Liminski

Eigentlich müßte doch eines klar sein: Der Mensch und damit die Familie haben Vorfahrt vor der Wirtschaft. Die Wirtschaft hat dem Menschen und damit der Familie zu dienen. Es geht um die familienfreundliche Wirtschaft, nicht die wirtschaftsfreundliche Familie. Solche Worte kann man sogar in Berlin hören, an den Früchten aber erkennt man anderes. Da ist die Lobby der Großbetriebe, der Stiftungen, der Funktionäre in den Parteien und Verbänden, der Journalisten und der Politik selbst - dieses politisch-mediale Establishment, in dem die gewollt Kinderlosen das Sagen haben, will die betriebsfreundliche Familie. Vielleicht weil es die Familie und die Wertschöpfung dieser Institution nicht mehr kennt.

Der familienpolitische Diskurs in Deutschland hat sich in den letzten zwei, drei Jahren auf die Krippenfrage verengt. Man denkt nur noch in arbeitsmarktnützlichen Kategorien. Aber während die Konjunktur brummt, hat man entdeckt, daß viele Familien nur noch hecheln und japsen. Sie leben, wie Fachleute sagen, in "prekärem Wohlstand", haben keine Zeit, jagen dem Geld hinterher, sie kämpfen gegen Hartz IV, rund um die Uhr. Die Armut wächst. Da Berlin aber kein Geld für die Familien lockermachen will - darin sind sich Steinbrück und von der Leyen völlig einig, sie stellen auch das Betreuungsgeld erst ab 2013 in Aussicht -, überlegt man, wie innerhalb des finanziellen Familienkreislaufs Geld umverteilt werden kann. Familienministerin von der Leyen spricht von einer Staffelung des Kindergeldes nach Bedürftigkeit. Dazu wird die Familie einfach neu definiert. Der Präsident des Statistischen Bundesamtes legte bei der Präsentation des neuen Mikrozensus im vergangenen Dezember die neue Definition vor. Familie, das sind Eltern mit mindestens einem minderjährigen Kind. Das ergebe sich aus der Relevanz dieser Gruppe mit Blick auf die Transfermaßnahmen.

Familienpolitik in Deutschland ist de facto eine Geschichte des Verrats an den Familien,

- weil die Urteile des Bundesverfassungsgerichts seit Jahrzehnten nicht umgesetzt werden ("wir leben im permanenten Verfassungsbruch", nannte es Paul Kirchhof einmal),

- weil man Familien und Wählervolk mit dem Elterngeld blendet; es begünstigt die doppelt erwerbstätigen Akademikerpaare auf Kosten der Geringverdiener,

- weil die Große Koalition den Familien mit der Streichung der Eigenheimzulage, dem Wegfall von zwei Jahren Kindergeld, der Kürzung der Pendlerpauschale und der Erhöhung der Verbrauchsteuern mehr als zehn Milliarden Euro aus der Tasche zieht und sich mit den 1,5 Millionen Euro für das Elterngeld brüstet,

- weil der Ausbau des Krippensystems nicht den Bedürfnissen und Wünschen der Familien entspricht, sondern der Wirtschaft und der Politikerkaste dient;

- weil gar nicht so viele Krippen gebraucht werden und damit die jungen Mütter in die Betriebe gedrängt werden sollen, statt ihnen wirkliche Wahlfreiheit zu bieten. Denn junge Frauen sind gut ausgebildet, um rund 20 Prozent preiswerter als männliche Kollegen und, wenn sie Kinder haben, auch verantwortungsbewußter und oft bescheidener, was sie gefügiger macht gegenüber den Anforderungen des Betriebs (weniger Fluktuation, keine übermäßigen Lohnforderungen);

- Es wird Verrat geübt an den Familien, weil das Existenzminimum der Kinder nicht steuerfrei ist und mit dem Kindergeld verrechnet wird, die Politik deshalb an den Eltern verdient und dennoch so tut, als fördere sie die Familien. Die ganzen Berechnungen und addierten Leistungen sind Nebelkerzen. Zwei Drittel dieser Leistungen werden von den Familien selbst finanziert.

- Es ist Verrat, weil Frauen, die sich in den ersten Jahren für die Erziehung ihrer Kinder entscheiden, von rot-grünen Politikern und Medien als Nur-Hausfrau oder Heimchen am Herd diskriminiert und pauschal als unfähig gebrandmarkt werden ("hängen nur vor dem Flachbildschirm" oder versaufen das Betreuungsgeld);

- Familienpolitik in Deutschland ist heute ferner Verrat an den Familien, weil die überwältigenden Ergebnisse der Entwicklungspsychologie sowie der Hirn-und Bindungsforschung, die dringend eine ständig liebevolle Zuwendung in den ersten Jahren empfehlen (Krippenerziehung ist Risikoerziehung), systematisch verdrängt und von ideologisch geprägten Kleinstudien und Umfragen verzerrt werden;

- Und Familienpolitik in Deutschland ist auch ein Verrat an den Kommunen. Denn die müssen zahlen, was in Berlin in diesem Bereich meist unter großem Getöse beschlossen wird. Zum Beispiel das Recht auf einen Kindergartenplatz, den die Kommunen natürlich dann vorhalten müssen.

Der bekannte Sozialrichter Jürgen Borchert, ein profunder Kenner der Sozialsystematik in Deutschland, faßt es so zusammen: Familien werden heute in die Armut geprügelt. Wer als Arbeitnehmer 30.000 Euro brutto verdient, landet mit zwei Kindern 1.200 Euro unter dem steuerlichen Existenzminimum, obwohl die Kindererziehung schon für sich genommen nach der Verfassungsrechtsprechung eine "beitragsäquivalente" Leistung für dieses System ist! Diese Überlast muß beendet werden. Das könnte nur eine Allparteienkoalition schaffen.

Sie könnte es, sie will aber nicht. Sie müßte nur die Urteile des Verfassungsgerichts konsequent umsetzen oder ein Familienwahlrecht einführen oder Maßnahmen ergreifen, wie sie mal im Programm der CDU standen: 8.000 Euro Freibetrag pro Person einer Familie (das wäre eine Art deutsches Familiensplitting), 50 Euro Bonus pro Kind bei den Rentenbeiträgen etc. Es gibt Ideen und Möglichkeiten in Fülle. Aber diese Regierung zieht es vor, die Familien weiter bluten zu lassen und nach dem Sintflut-Prinzip die Schäfchen der gewollt Kinderlosen trocken zu halten. Bei der Familienpolitik sind in der Großen Koalition keine konzeptionellen Unterschiede mehr zu sehen. Überall gilt: Materialismus vor Menschlichkeit.

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