© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/08 23. Mai 2008

Eine schwarz-bunte Welle schwappt über die Stadt
Selten sind Heiles und Krankes, Schönes und Schauriges so merkwürdig vereint wie beim jährlichen Wave-Gotik-Treffen in Leipzig
Ellen Kositza

Die Zeiten, da das alljährliche Wave-Gotik-Treffen (WGT) zu Pfingsten als Sammelbecken einer sich irgendwie rechts verortenden Subkultur verstanden werden konnte, sind lange vorbei. Längst ist es keine sich diffus „alteuropäisch“ definierende Elite, die sich dunkelgewandet zu mittelalterlichen Klängen, sogenanntem Neo-Folk oder härteren Stilrichtungen („Industrial“) im Süden Leipzigs einfindet. Es ist eine Menschenmasse, die als schwarz-bunte Welle über die ganze Stadt schwappt. Das WGT ist Institution geworden – dergestalt, daß Fremdenführer, die ihre Touristengruppen zwischen Thomaskirche und Völkerschlachtdenkmal begleiten, nicht umhinkönnen, Kurzreferate zu diesem europaweit größten Treffen der Schwarzen Szene zu liefern.

Das dürfte nicht einfach sein für den, der es genau nimmt. Ihre neoromantischen Urgründe hat die Festival-Klientel weitgehend aus den Augen verloren – allein ein ausdifferenzierter subkultureller Zug ist geblieben, und sei’s auch nur als Kult der Oberfläche und des Sichtbaren. Jeans oder zeitgemäß-bequemes Schuhwerk sucht man vergebens an den Beinen der wieder rund 20.000 Besucher, die an den vier Tagen vom Markkleeberger Messegelände ausgehend die Stadt bevölkerten. Neben dem klassischen alten „Grufti“-Look (schwarzumrandete Augen, spitzenbesetzte düstere Gewänder) dominierte wie seit einigen Jahren das Schrille und Bizarre.

Der frühsommerliche Sonnenschein machte Strapse und knappe Korsagen geradezu zum Standard-Repertoire der Besucherinnen, Leder und Latex erwiesen sich als gerngetragene Materialien. Wer da noch wirklich auffallen wollte, verbarg sein Gesicht unter Schweißerbrillen, Vollmasken oder wenigstens einem filigranen Sonnenschirm aus schwarzer Spitze. „Sonne macht albern“, lautete die durchaus zweideutig auszulegende Devise, die als Aufdruck von zahlreichen Baumwollhemden prangte.

Wer mit solcherlei Botschaften reüssierte, darf schon zu den auskunftsfreudigeren Teilen dieser demonstrativ sich unterkühlt-schweigsam gebenden Gesellschaft gerechnet werden. Andere aufs Textil gebrachte Sinnsprüche verkündeten die Goethe zugeschriebene Weisheit, daß „nur Kinder und einfache Leute lebhafte Farben lieben“, oder, dies ohne geistesgeschichtlichen Bezug: „Krieg ist Scheiße. Aber der Sound ist geil“. Auch in Kindergrößen wurde von zahlreichen Verkaufsständen in den agra-Messehallen szenegerechte Bekleidung feilgeboten, Etikettierungen wie „Tod & Tödchen“ oder „Kleiner Germane“ warteten hier auf Käufer.

Wessen Kleiderschrank bereits voll war, der mochte vielleicht süßmodrige Patchouli-Düfte, Runenanhänger und eine Flasche Absinth erwerben, zudem Handschellen und diverses Peitschwerkzeug. Wie immer auf dem WGT zeigten sich die Grenzen zwischen Gegenkultur und Perversion als durchlässig. Samtene Zylinder und Gehstöcke mit Silberknauf mögen noch eine gewisse Würde ausstrahlen, bei stachelbesetzten Hundehalsbändern (samt Leine und strengem Herrchen) und freigelegten Frauenbrüsten (was sich Sadomaso- oder Fetisch-Kultur nennt und in Fesselungsorgien seinen Platz fand) wird die Zeigefreudigkeit endgültig zur Geschmackssache.

Auch all jene, die ihre natürliche Körpergröße durch gewagtes Schuhwerk und Frisur auf übermenschliches Riesenmaß anwachsen ließen, durften sich einerseits neugieriger Kameras diverser Fernsehteams, andererseits grummelnder Konzertgäste gewiß sein – die Sicht aufs Bühnengeschehen litt zwangsläufig. Und zu sehen gab es wieder reichlich. Rund 170 Veranstaltungen an 20 Orten standen auf dem Programm. Darunter nun überwogen keineswegs die Abartigkeiten: Die Szene zeigte sich heterogen, also bunt – bei aller gebotenen Düsternis freilich.

Auf diversen Märkten und Konzerten erstand das Mittelalter wieder auf, rund um das Markkleeberger Parkschlößchen lud man zum stilechten „viktorianischen Picknick“, Franz Schuberts „Winterreise“ (Bariton und Klavier) wurde dargeboten, ebenso – im feinen Ambiente des Mendelssohn-Hauses – eine französische Soiree mit Kompositionen von Debussy und Ravel und Texten von, klar, Baudelaire.

Insgesamt stand natürlich die neuere Musik im Vordergrund. Wer es voll und wogend liebte, stellte sich unter die Massen in die agra-Halle, wer harte Rhythmen wie Tiamat und militärisch anmutende Formationen wie Nachtmahr bevorzugte, wurde im Kohlrabizirkus auf dem alten Leipziger Messegelände bestens bedient.

Vor der Qual der Wahl stand der Besucher auch Pfingstmontag zum Ausklang des Festivals: Klaus Kinski als Marquis de Sade in „Justine“ anschauen oder lieber noch mal den Joy-Divison-Film „Control“? Wer sich für die Kuppelhalle, den alten DDR-Volkspalast mit seiner bombastisch-morbiden Ausstrahlung entschied, lag jedenfalls goldrichtig. Mit seiner Formation Barditus eröffnete Uwe Nolte (bekannt durch sein älteres Projekt Orplid; JF 29/07, JF 39/96) den Abend. Bei den zu Ohr gebrachten wilden Vertonungen von Eichendorff und Theodor Körner von Kongenialität zu reden, ist naturgemäß heikel. Mitreißend und unzeitgemäß – nun ja: vaterländisch –, war auf jeden Fall, was der Kraftmensch aus Halle an Dichtkunst und Landsknechtsliedern über die Bühne brachte.

Es folgten die Sachsen von Voxus imp., ebenfalls bravourös und reichlich pathosschwanger (Trommel und Flammengeloder!). Da paßte der Auftritt von Psychic TV als Abschluß wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Die Band ist eine uralte Szenegröße, deren irrer, mittlerweile bald 60jähriger Sänger konfuseste Philosophien vertritt. Dazu zählt auch die durch zahlreiche Operationen angestrebte Geschlechtsangleichung mit seiner jüngst verstorbenen Frau. So lief auch dieser groteske Auftritt unter dem leinwandgroß plakatierten Motto: „Biology is not your destiny!“

Das Publikum, teils militärisch uniformiert, tobte. Auch das paßt: Kaum sonst sind Heiles und Krankes, Schönes und Schauriges so merkwürdig vereint wie alljährlich beim Leipziger Wave-Gotik-Treffen. Politische Demonstrationen oder, wie im vergangenen Jahr, Übergriffe gegen vermeintlich „rechte“ Teilnehmer waren diesmal nicht zu vermelden – auch wenn all die Armbinden, Knobelbecher, Seitenscheitel und Flechtzöpfe wenigstens bei den Flaneuren in der Innenstadt für Irritationen sorgten.

Foto: Besucherinnen des Wave-Gotik-Treffens zu Pfingsten in Leipzig: Touristenattraktion zwischen Völkerschlachtdenkmal und Thomaskirche

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