© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  22/08 23. Mai 2008

Preußentum und Wowizismus
Berlin I: Der prinzipientreue Finanzsenator Thilo Sarrazin als Gegenbild zum regierenden Partybürgermeister
Thorsten Hinz

Zieht man eine Bilanz der knapp siebenjährigen Amtszeit von Klaus Wowereit (SPD) als Regierender Bürgermeister von Berlin, dann stellt sich die Ernennung des ehemaligen Bahnmanagers Thilo Sarrazin zum Finanzsenator im Januar 2003 als sein entscheidender Glücksgriff heraus. Seitdem besteht Wowereits wichtigste Leistung darin, den eisernen Sparkommissar gegen alle Anfeindungen im Amt zu halten. Sarrazin ist zugleich sein größtes Pfund.

Wenn Wowereit heute als möglicher Kanzlerkandidat der SPD genannt wird, dann aus vier Gründen: Erstens, weil seine Partei über kein vorzeigbares Personal mehr verfügt und im Abendlicht selbst die Zwerge Schatten werfen. Zweitens hat er sich ein Netzwerk aus karrierehungrigem Nachwuchs geschaffen. Für seinen parteiinternen Strippenzieher, den früheren Juso-Chef Björn Böhning, wurde in der Senatskanzlei eigens eine Planstelle eingerichtet. Drittens hat „Wowi“ an sich gearbeitet. Er hat die Partybesuche reduziert und gelernt, in einfachen, doch immerhin ganzen Sätzen zu sprechen, die überwiegend sogar fehlerfrei sind. Viertens aber und vor allem strahlt Sarrazins Finanzpolitik auf ihn zurück und verleiht ihm den Anhauch von Seriosität. Andererseits ist ein Sarrazin heute nur unter einem Regierungschef vom Schlage Wowereits möglich.

Die Vorgänger haben das Tafelsilber verkauft

Es war schwer, überhaupt einen Interessenten für das trostlose Amt des Berliner Finanzsenators zu finden. Die abrupte Drosselung der Bundeshilfen, der Zusammenbruch der industriellen Basis im Ostteil, Doppelstrukturen, aufgeblähte Verwaltungen, der Erwartungsdruck der Ost-Berliner hatten die Stadt in eine katastrophale Verschuldung gestürzt. Sarrazins Vorgänger hatten versucht, durch den Verkauf des vielzitierten Tafelsilbers – Grundstücke, Energie- und Wasserwerke – finanziellen Spielraum zu gewinnen. Dann brach die Fast-Pleite der Berliner Landesbank über die Stadt herein. Das Tafelsilber war weg, das dafür eingenommene Geld aber auch. Wowereit nutzte die Gelegenheit, um im Juni 2001 den CDU-Vorgänger Eberhard Diepgen zu stürzen. Einige Monate später überwarf sich Bahnmanager Sarrazin – seit 35 Jahren SPD-Mitglied und mit der Ministerialbürokratie auf Bundes- und Länderebene bestens vertraut – mit Vorstandschef Hartmut Mehdorn und ließ sich als Mann für hoffnungslose Fälle für den Berliner Senat anwerben.

Als erstes brachte er Politikern und Wählern mit dem Gleichmut einer Gebetsmühle die wirkliche Lage Berlins nahe. Einem Landeshaushalt von rund 20 Milliarden Euro, der zu großen Teilen durch Bundeszuweisungen und den Länderfinanzausgleich bestritten wird, steht ein weiter wachsender Schuldenberg von über 60 Milliarden gegenüber. Er verordnete einen strikten Sparkurs mit dem unschlagbaren Argument, nur so könne das Bundesverfassungsgericht veranlaßt werden, den Bund zur Teilentschuldung der Stadt zu verpflichten. Allen Einwänden begegnete er mit einem autistischen Beharren auf den Zahlen.

Seine Kritiker, die hofften, er würde sich als weltfremder Ignorant schließlich selber demontieren, überraschte er durch verbale Bissigkeit, in der Lebensklugheit, Kompetenz und giftiger Humor aufblitzten. Als 2002 Eltern gegen höhere Kita-Gebühren protestierten, polterte er: „Es wird ja so getan, als ob der Senat die Kinder ins Konzentrationslager schicken wollte.“ Danach war freilich eine Entschuldigung fällig. Er hat seine Rhetorik verfeinert und dadurch den Unterhaltungswert noch vergrößert.

Als nach der Niederlage Berlins vor dem Verfassungsgericht einige meinten, jetzt dürfe man sich wieder eine höhere Verschuldung leisten, rückte er die Maßstäbe zurecht: „Der Schutt ist abgeräumt. Wir leben hier nicht mehr im Jahre 1945, sondern wir leben im Jahre 1947.“ Und weil viele Berliner Politiker meinen, die Welt schaue noch immer automatisch auf die Stadt und das Flughafengelände in Tempelhof sei deshalb ein „Filetstück“, ätzte er: eines, wo schon die Maden rausschauten! Das hatte fast Dieter-Bohlen-Qualität. An seiner Aussage, Hartz-IV-Empfänger könnten sich für 4,15 Euro am Tag bekömmlich ernähren, hielt er fest in dem Wissen, daß manchen Vollzeitbeschäftigten auch nicht viel mehr zur Verfügung steht.

Bei Debatten im Abgeordnetenhaus blättert er in Akten und schaut höchstens unlustig auf, wenn im anklagenden Tonfall sein Name fällt. Ihm ist anzusehen, daß er diese Simulation von Politik verachtet und seine Kritiker unmöglich ernst nehmen kann. Seitdem ihm bei einer Operation am vereiterten Ohr Nervenstränge durchtrennt wurden und die rechte Gesichtshälfte teilweise gelähmt ist, hat sich der Ausdruck von Strenge und Verachtung noch verstärkt. Schon wird er mit den Staatsreformern verglichen, die nach der Katastrophe von 1806 Preußen wieder groß gemacht hatten. Tatsächlich kann er sich ähnlich frei fühlen wie sie: Er muß sich in seiner Partei keine Hausmacht aufbauen, denn sowenig wie Freiherr vom Stein preußischer König werden wollte, möchte Sarrazin Regierender Bürgermeister werden. Geld hat er genug verdient, und falls er den Senatorenposten verliert, wird die Privatwirtschaft dem deutschlandweit hochgeschätzten Fachmann rote Teppiche ausbreiten.

Gegenteil solider Bürgerlichkeit

Bis 2011 soll Berlin ohne Neuverschuldung auskommen. Das wäre sensationell. Wer nun aber meint, Sarrazins Erfolg sei das Zeichen für die Renaissance einer neuen Bürgerlichkeit in Berlin, der übersieht, daß ein Finanzsenator wie er nur unter der Regentschaft eines Klaus Wowereit möglich ist. Wowereit wiederum personifiziert das Gegenteil solider Bürgerlichkeit. Sein – inzwischen taktisch klug zurückgefahrener – Exhibitionismus und die Verwendung des politischen Amtes als Plattform der Selbstverwirklichung entsprechen den Erwartungen und dem Unterhaltungsbedürfnis der egalitären Massengesellschaft. Die aggressive Verwertung seiner Homosexualität stieß diese keineswegs ab, sondern machte ihn erst recht zur Galionsfigur des unverbindlichen, verantwortungsfreien Wertepluralismus.

Damit kommt er der Gemütslage einer Großstadtgesellschaft entgegen, die häufig von Transferleistungen lebt. Mit der paradoxen Folge, daß selbst Sarrazins Sparkurs in Berlin als eine Laune von „Wowi“ erscheint, die nicht ganz ernst gemeint ist und sich wieder ändern kann und – deshalb akzeptiert wird. Wowereits indes gerät durch Sarrazins Wirken deutschlandweit in den Ruf, ein Politiker mit durchdachten Konzepten zu sein, was absolut nicht zutrifft. Wenn er meint, daß es seinem Fortkommen dient, wird er den resoluten Sparkurs unter allgemeiner Zustimmung beenden. So enthält die Freude über den prinzipienfesten Sarrazin den vergifteten Stachel, daß er vom narzißtischen Kalkül eines politischen Selbstbefriedigers abhängt.

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