© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/08 16. Mai 2008

Eurovision Song Contest: Das "alte" und das "neue Europa" messen sich aufs neue
Flucht in die Komik
Curd-Torsten Weick

Sommerlicht! Das ist Sommerlicht!" Wie bitte? Deutsch beim Eurovision Song Contest 2008 in Belgrad? Ein Versehen? Man singt doch am liebsten englisch. Und wenn man deutsch singt, landet man wie Roger Cicero im vergangenen Jahr auf Platz 19. Aber der scheint für das "alte Europa" ja schon ein Erfolg zu sein. Im Kampf um die "Votes" hat das "neue Europa" die Nase vorn und erhält in diesem Jahr Aserbaidschan als Debütanten-Zuwachs. Aber halt. San Marino, der Ministaat im Herzen Italiens, verstärkt Alt-Europa und kann den Verlust von Italien, das seit 1998 auf die Teilnahme verzichtet, und Österreich, das sich schmollend ins Abseits stellt, weil es 2007 "Schiebungen wähnte" (Profil), vielleicht ausgleichen.

Doch Alt-Europa scheint derart irritiert zu sein, daß es ihm die Sprache verschlägt. "O julissi na ditini, o bulo diti non slukati, sestrone dina katsu", trällert dann auch die belgische Gruppe Ishtar, und keiner versteht's. Muß man aber auch nicht. Denn es handelt sich um eine Kunstsprache. Eine Kunstsprache ist das Französische nicht. Im Gegenteil. Französisch ist der Stolz der Grande Nation. Und so sind die Nachbarn perplex, daß Sébastien Tellier in englischer Sprache singen will. Alle Nachbarn? Nicht alle. All den Kritikern, die den Untergang Frankreichs nun forciert sehen, entgegnet Telliers Produzent Stephane Elfassi zeitgemäß und im Sinne all der anderen großen Kulturnationen (Griechenland, Polen, Rußland, Spanien und Deutschland, das im Finale von den No Angels vertreten wird), die aufs Englische setzen: "Im Jahr 2008 ist es ein bißchen überholt, so zu tun, als ob die französische Kultur sich auf ein dreiminütiges französisches Stück bei der Eurovision beschränke."

Bei soviel Ungemach ist es nur verständlich, daß Irland auf Allzu-Menschliches verzichtet und Dustin the Turkey ins Rennen schickt. Nicht ungeschickt. Der quäkende Truthahn sorgt für Aufsehen und läßt all die hübschen Damen, die die Belgradarena erobern wollen, alt aussehen. Parallel dazu füllt er auch noch das französische Vakuum, indem er ohne Unterbrechung trällert: "Irlande douze points". Ja, ja, die Flucht in die Satire und Komik scheint Alt-Europas letzte Hoffnung zu sein. "Baila el Chiki Chiki", singt dann auch die Kunstfigur Rodolfo Chikilicuatre, der für Spanien ins Rennen geht.

Eine Flucht in die Satire kann man dagegen dem niederländischen Beitrag nicht attestieren. Es ist eher schon eine Flucht nach vorn, eine Flucht in die Gegenwart eines multikulturellen Europa, daß die Holländerin Hind Laroussi auf die orientalisch-arabeske Schiene setzt. Doch ob mit der noch vor Jahren angesagten Mischung aus Orient und Okzident - Sertab Erener gewann für die Türkei im Jahr 2003 - in Belgrad ein Blumentopf zu gewinnen ist, scheint fraglich. Zumindest, wenn man in die Türkei schaut: Das Land am Bosporus vermeidet jegliches Arabeske und setzt auf den schnörkellosen Rock der Gruppe Mor ve Ötesi. "Deli" (zu deutsch: irre, wahnsinnig) heißt ihr Titel. Deli wie der Eurovision Song Contest des Jahres 2008: Mit 43 teilnehmenden Nationen setzt er eine neue Rekordmarke, die nur noch mit zwei Halbfinal-Veranstaltungen bewältigt werden kann und den Interessierten zu erschlagen droht.

Da fällt es vielleicht leichter, einen Blick hinter die Kulissen der Belgrader Veranstaltung zu werfen. Doch der ist eher diffiziler und bereitet so manchen Medien Kopfzerbrechen. "Singen gegen Europa", heißt es oft. Interessierte Blicke richten sich auf das von politischen Krisen geschüttelte Serbien. Kann man dem Frieden trauen? Macht Serbiens Vertreterin Jelena Tomašević mit ihrem Beitrag nicht Anspielungen auf die Schlacht vom Amselfeld ("Weck mich auf am Veitstag")? Egal. "Sommerlicht! Das ist Sommerlicht!" singt die estnische Komikertruppe Kreisiraadio im Refrain und preist dazu in serbischer Sprache Hummer, Kartoffeln und Bohnen.

 Halbfinale 1, 20. Mai ab 21 Uhr im NDR Fernsehen. Halbfinale 2 in der Nacht zum 23. Mai um 0.45 Uhr (NDR). Finale am 24. Mai, um 20.15 Uhr in der ARD. Alle Informationen zu Titeln und Interpreten (inkl. Videos) im Internet unter eurovision.ndr.de

Foto: Dustin the Turkey für Irland ("Irland douze points"): Ein Truthahn gegen die Phalanx der Schönen

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