© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/08 16. Mai 2008

LOCKERUNGSÜBUNGEN
Rollenfindung
Karl Heinzen

Seit 1994 ist die Mitgliederzahl des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) um mehr als 25 Prozent gesunken - von seinerzeit knapp 6 auf nunmehr gerade einmal 4,3 Millionen. Manches deutet darauf hin, daß sich dieser Trend fortsetzen wird. So soll Agenturmeldungen zufolge eine vom DGB finanzierte, bislang aber von ihm unter Verschluß gehaltene Infratest-Umfrage ergeben haben, daß mehr als eine Million seiner Mitglieder "massiv unzufrieden" mit ihrer Interessenvertretung sind.

Für diesen Unmut hat die Erhebung drei Gründe identifiziert: Der Gewerkschaftsspitze wird vorgeworfen, die Arbeitswirklichkeit von heute nicht mehr zu kennen. Zudem kümmerten sich die Funktionäre zu wenig um den Erhalt von Arbeitsplätzen, und schließlich seien zu allem Überfluß in den Tarifverhandlungen auch noch unbefriedigende Ergebnisse erzielt worden.

Unter den Unzufriedenen hat Infratest weniger solche Mitglieder ausgemacht, die ganz am unteren Ende der Einkommenspyramide angesiedelt oder gar erwerbslos sind. Vielmehr meldeten "überdurchschnittlich viele, die beruflich erfolgreich sind", Kritik an, in erster Linie Facharbeiter und Gesellen, die von einem weiteren sozialen Aufstieg träumen. Die Meinung dieser Mitgliedergruppe muß die DGB-Spitze in besonderem Maße ernst nehmen, da sie, die Arbeiterelite im klassischen Sinne, überproportional zum Beitragsaufkommen beiträgt und qua ihres höheren Bildungsniveaus in der innerverbandlichen Willensbildung über größeres Gewicht verfügt. Wie jede Elite in einer Marktgesellschaft scheint sie mit dem Ganzen nur in einer losen inneren Verbindung zu stehen. Ihren Interessen ist also nicht dadurch gedient, daß man Arbeitersolidarität beschwört und sich gleichmacherischen Zielsetzungen verschreibt.

In erster Linie will die Arbeiter­elite ihren Status verbessern und dabei die Distanz nach unten vergrößern. Forderungen nach einem Mindestlohn sind ihr gleichgültig, sie will ihr eigenes Einkommen maximieren. Vom DGB erwartet sie nicht das Kokettieren mit sozialistischen Wahnvorstellungen, die die bürgerliche Gesellschaft als den einzig denkbaren Rahmen ihres beabsichtigten Fortkommens in Frage stellen, sondern ordentlichen Service als Wegbereiter und Wegbegleiter in der Verfolgung ihrer privaten Ziele. Wenn die Gewerkschaften diese Gruppe weiterhin an sich binden sollen, müssen sie aller Sozialromantik entsagen und endlich ihre einzig mögliche Rolle in einer Dienstleistungsgesellschaft anerkennen: als ADAC für abhängig Beschäftigte.

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