© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/08 09. Mai 2008

Das Geheimnis des Henkers
Das ist kein Céline: Der Marginalienband zu Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten"
Harald Harzheim

Wer die feuilletonistische Debattenschlacht um Jonathan Littells Roman "Die Wohlgesinnten" (JF 10/08) verfolgt hat, dem dürften vor allem zwei Aspekte in Erinnerung geblieben sein: das subjektive Ekelempfinden, das zahlreiche Rezensenten bekundeten, und die Feststellung, daß Littells Buch ein Remake der "Orestie" des Aeschylos sei. Beides zusammen erinnert an Gerhard Hauptmanns NS-kritische Orestie-Version, die "Artriden-Tetralogie" (1941-1946), die einst als blutrünstig geschmäht wurde.

Wer die Lektüre des Romans noch vor sich hat, ist deshalb gut beraten, die umkämpfte "Orestie"- Perspektive zu verlassen und eine weniger "vorbelastete" Lesart zu versuchen. Helfen kann dabei der zeitgleich mit dem Roman erschienene Marginalienband zu den "Wohlgesinnten". In ihm sind Briefe von Littell an seine Übersetzer, das FAZ-Interview mit dem Regisseur Claude Lanzmann, ein Gespräch zwischen Jonathan Littell und dem französischen Historiker Pierre Nora sowie zwei literaturwissenschaftliche Essays enthalten - ausreichend Rohstoff also für eine Ausweitung der Pro- und Con-tra-Positionen.

In den Briefen an seine Übersetzer diskutiert Littell zunächst, was die Rezensenten am stärksten zur Herstellung des "Orestie"-Bezuges inspiriert hat: der Titel. Eumeniden, auf französisch "Les Bienveilles", auf deutsch "Die Wohlgesinnten", heißen die griechischen Rachegeister.

Vor allem legt Littell Wert auf die Musikalität seines Textes. Der Übersetzer müsse dafür unbedingt ein Pendant in der eigenen Sprache finden, dann folgten Rhythmus und Melodik fast von selbst. Ein Touch Thomas Bernhardt sei erwünscht. Der Text soll eine "obsessive und nahezu metallische Tonalität" haben. Die Stimme des Ich-Erzählers dürfe weder zu "hoch" angesetzt werden, aber auch nicht "zu tief - dies ist kein Céline, also kein Spott an dieser Stelle, kein vertraulicher Umgangston".

Dies ist kein Céline! Wer Angst vor Verwechslung hat, weiß, daß ein Grund dazu besteht. Und wirklich: Gegenüber Pierre Nora nennt Littell als wichtige Lektüren neben William S. Burroughs auch Céline, Genet, de Sade und Bataille - die dunklen Ekstatiker der französischen Literatur, deren Schriften die psychologischen Wurzeln des "Faschistoiden" blankzulegen suchten. Marquis de Sade scheidet zwar aus historischen Gründen aus, findet aber für Faschismus-Analysen wiederholt Verwendung, von Ernst Jünger ("Das Abenteuerliche Herz") bis Pier P. Pasolini ("Die 120 Tage von Sodom").

Denn mag man noch so viele Fakten sammeln, noch soviel über politische und ökonomische Hintergründe erfahren, die Innenperspektive des einzelnen Massenmörders bleibt ein - beunruhigendes - Geheimnis, das das gesamte abendländische Menschenbild zu bedrohen scheint. De Sade versuchte als einer der ersten dieses Horror vacui zu schließen, indem er eine spekulative Innenperspektive bot. In seinem Roman "Justine und Juliette" (1799) bekommt die Ich-Erzählerin Juliette rund 1.500 Seiten Platz, um über ihre bestialischen Sexual- und Mordexzesse zu monologisieren. Das ist fast die gleiche Seitenzahl, die Littell seinem Ich-Erzähler Max Aue einräumt. Selbst Littells Motive des Geschwisterinzests und des Muttermords findet sich in de Sades Werk. Auf dessen Psychologie, der Verschmelzung von sexuellem Exzeß mit Mord, setzt auch Georges Bataille im "Blau des Himmels" (1936), einem frühen Roman über das nationalsozialistische Deutschland. Gleiches versucht Céline in seiner Trilogie "Von einem Schloß zum anderen" (1957), "Rigodon" (1960) und "Norden" (1964).

Unnötig zu erwähnen, daß in vielen dieser Werke Blut, Sekrete und Fäkalien eine Fetischfunktion für die Mörder einnehmen. Massenvernichtung als Sexualperversion: Wie sonst ließe sich solch ein Mega-Verbrechen bewerkstelligen? Die Mordlust ist nicht bloß Ergebnis eines Traumas, so wie Gerhard Hauptmanns Iphigenie nach ihrem Trauma zur Mordmaschine mutiert, sondern gehört zur Grundausstattung des Menschen. Wenn Pierre Nora behauptet, daß neben Littell ein "Sade, Genet, Bataille und die anderen wie Chorknaben wirken", dann widerspricht der zu Recht: "Ich bin mit Ihnen nicht ganz einverstanden. (...) Genet hat immerhin mit seinem sodomisierten Hitler in 'Pompes Funèbres' (Das Totenfest) diesen Typus eingeführt."

In der Tat überbieten "Die Wohlgesinnten" keineswegs die grenzsprengenden Darstellungen eines de Sade, Genet oder Bataille, versuchen aber eine Differenzierung innerhalb dieser literarischen Form - und damit im "Verstehen" des Massenmörders. Dieser Bezug zu einer wichtigen literarischen Strömung in Frankreich wurde in deutschsprachigen Kritiken nur polemisch erwähnt, aber nie zu Ende gedacht.

Claude Lanzmann, dessen Dokumentarfilm "Shoa" (1985) eine weitere Quelle für Littells Roman war, bleibt skeptisch. Er glaubt, daß Littell zwar "eine Sprache der Henker erfunden" habe, aber "für mich sprechen die Henker nicht so wie bei Littell - die Henker reden überhaupt nicht". Sicher erfassen Littell und seine klassischen Vorläufer das "Geheimnis des Henkers" auch nur bruchstückhaft. Sie alle wußten und wissen das am besten. So zeigt auch  Judith Kleins Kurzessay am Ende des Marginalienbandes die Unmöglichkeit einer "sprachlichen Vergegenwärtigung" des Ungeheuren.

Trotzdem muß die Literatur dieses Geheimnis weiter thematisieren. Oder der Mensch gibt endgültig den Versuch auf, sich zu verstehen - und damit auch jede Frage nach Grund und Sinn seiner Existenz.   

Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Marginalienband, Berlin Verlag, Berlin 2008, kartoniert, 99 Seiten, 5 Euro

Foto: "The Remorse of Orestes", William-Adolphe Bouguereau, Öl auf Leinwand, 1862: Sicher gelingt Littell und seinen klassischen Vorläufern die unmögliche sprachliche Vergegenwärtigung des Ungeheuren auch nur bruchstückhaft. Trotzdem muß die Literatur dieses Geheimnis weiter thematisieren. Oder der Mensch gibt endgültig den Versuch auf, sich zu verstehen - und damit auch jede Frage nach Grund und Sinn seiner Existenz.

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